Erfahrene Beobachter im Bundeshaus sprechen von einem «beispiellosen Vorgang». Er spielte sich am letzten Dienstag und Mittwoch ab. Hauptakteur im Fall, über den die «NZZ» als erste berichtete, ist Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis (FDP). Eine «derart grobe Verletzung des Kollegialitätsprinzips», verbunden mit einer «Rufschädigung» für die Schweiz, habe er noch nie erlebt, sagt ein langjähriger Mitarbeiter der Bundesverwaltung.
Die Affäre dreht sich um eine Überflugsbewilligung für einen Transport von Kriegsmaterial von England nach Italien, um die das Nato-Land Kanada ersucht hatte. Zuständig dafür war das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) im Verkehrsdepartement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Das BAZL entscheidet im Fall von ausländischen Militärflugzeugen in Absprache mit der Direktion für Völkerrecht im EDA, der Luftwaffe und dem Staatssekretariat für Wirtschaft Seco. Weil der Überflug angesichts des Kriegs in der Ukraine als politisch heikel eingestuft wurde, bereitete Sommaruga wie gesetzlich vorgesehen einen Bundesratsentscheid für die Sitzung vom Mittwoch vor.
Es gab wie üblich Konsultationen und Mitberichte. Während etwa das Uvek und das Verteidigungsdepartement von Viola Amherd (Mitte) den Überflug bewilligen wollten, weil er im Interesse der Schweiz und ihrer Sicherheit sei, stellte sich etwa das EDA quer. Es brachte vor, die Neutralität gebe gerade zu reden, man müsse da zurückhaltend sein. Zudem sei nicht ausgeschlossen, dass Kriegsmaterial bei Konfliktparteien lande. Als ob das je ausgeschlossen sei, argumentierten andere Departemente. Zudem wussten sie noch zu gut: Noch vor einigen Jahren gehörte Cassis zu jenen im Bundesrat, die Exporte von Kriegsmaterial in Bürgerkriegsgebiete erlauben wollten.
Es lief alles auf eine kontroverse Debatte am Mittwoch im Bundesrat hinaus. Da hatte Cassis eine Idee. Noch am Dienstag kontaktierte das EDA die kanadische Botschaft in Bern mit der Frage, ob die Transportmaschine nicht einen Umweg um die Schweiz fliegen könne. Die Kanadier reagierten erstaunt und fragten zurück, wer hinter dieser Anfrage stehe. Die Antwort war: Ignazio Cassis, der Präsident. Offenbar wurde auch gesagt, der Bundesrat werde das Anliegen sonst ablehnen. So zogen die Kanadier das Gesuch zurück.
Cassis hatte es unterlassen, die für das Dossier zuständige Kollegin Sommaruga über seine «Parallelaktivitäten» zu informieren. Ein eklatanter Verstoss gegen die Kollegialität. Irgendwann im Lauf des Dienstags bekam das zuständige BAZL über eigene Kanäle Wind vom EDA-Unterzug. Auf sein Vorgehen angesprochen, gab der Bundespräsident danach offenbar zurück, die Sache habe sich ja erledigt, das Gesuch sei «gegenstandslos».
Neutralität nach Art von Cassis. Das EDA stellte sich gestern tot und leitete Fragen von CH Media zur Sache an Bundesratssprecher André Simonazzi weiter. Dieser teilte mit: «Der Bundesrat hat am Mittwoch ein Gesuch für einen Überflug auf seiner Traktandenliste gehabt. Da aber mittlerweile das Gesuch zurückgezogen wurde, musste der Bundesrat keinen Entscheid treffen. Details über die Behandlung eines Geschäftes im Bundesrat kann ich Ihnen nicht geben.»
Die Kanadier selbst geben sich gegen aussen derzeit zurückhaltend und diplomatisch. Es seien beidseitig diverse Ministerien involviert, er könne nicht im Detail sagen, was genau abgelaufen sei, sagt auf Anfrage Philippe Genest, politischer Sekretär der Botschaft in Bern. Er betont aber, solche Gesuche für Überflüge würden regelmässig gestellt und dasjenige, «das hier Schlagzeilen macht, war keineswegs aussergewöhnlich». Überflüge über die Schweiz seien nötig, um Transporte möglichst direkt und effizient und mit wenig Treibstoffverbrauch durchführen zu können.
Klar scheint, dass der kanadische Überflug kein militärischer Flug einer Kriegspartei oder zur Unterstützung einer solchen war. Solche Flüge hatte der Bundesrat am 11. März 2022 bereits ausdrücklich verboten. Der Flug der Kanadier war neutralitätsrechtlich offenbar unbedenklich. Die Frage aber war, und die sollte der Bundesrat beantworten, ob der Flug auch neutralitätspolitisch vertretbar war. Aus Sicht von Befürwortern war er das, er lag im Interesse der Schweiz und ihrer Sicherheit: Das Material, das transportiert wurde, sollte europäischen Staaten dabei helfen, sich wirksamer gegen den Aggressor zu verteidigen. Davon profitierte auch die Schweiz, weil die Chance wächst, dass der Konflikt nicht noch näher kommt. Aus Sicht der SVP aber dürften solche Überflüge gegen die Neutralität verstossen.
Cassis wurde zuletzt von der SVP massiv kritisiert, weil er auf dem Bundesplatz an einer Ukraine-Demo teilgenommen hatte. Beobachter vermuten, dass der Aussenminister, der nur dank der SVP Bundesrat wurde, einen weiteren Konflikt mit der SVP verhindern wollte.
Im Bundesrat wäre es auch um eine wichtige Grundsatzfrage gegangen: Wie konsequent ist es, dass die Schweiz Nato-Staaten wie Deutschland, Rumänien, Italien, Grossbritannien oder Kanada Jahr für Jahr für teils für dreistellige Millionenbeträge Kriegsmaterial liefert? Dass sie den gleichen Nato-Staaten jetzt aber Überflüge mit Kriegsmaterial verbietet, selbst wenn diese Überflüge von einem dieser Nato-Staaten in den anderen führen? Aufgeschoben ist nicht aufgehoben: Irgendwann wird die Regierung diese Antwort noch geben müssen. Nach dem Unterzug von Cassis gibt es nicht weniger, sondern mehr Probleme und offene Fragen.
Während der Bundespräsident Nato-Flüge um die Schweiz herumlenkt, betont Armeechef Thomas Süssli in Interviews gerade die Bedeutung der Nato für die Sicherheit der Schweiz. Kanada ist irritiert und will jetzt offenbar wissen, welche Haltung die Schweiz eigentlich einnimmt. Und im Bundesrat ist die Stimmung jetzt noch vergifteter und gereizter, als sie es nach dem unter Präsident Cassis öffentlichen vorgetragenen Murks um die Übernahme der EU-Sanktionen ohnehin schon war.
Die Sache mit den Überflügen erinnert an einen Vorfall von letztem Jahr. Da verhandelten das EDA und das Finanzdepartement von Ueli Maurer (SVP) hinter dem Rücken von Verteidigungsministerin Amherd (Mitte) mit Frankreich: Es ging um den Kampfjet-Entscheid, obwohl der faktisch bereits zugunsten des F-35 ausgefallen war. Die Franzosen fühlten sich danach von der Schweiz in die Irre geführt, Verteidigungsministerin Amherd sah sich hintergangen. Auch da spielte der Aussenminister eine Hauptrolle. (aargauerzeitung.ch)
Es ist mit Inkompetenz nicht mehr entschuldbar. Dieser Typ sabotiert die Schweiz. Er ist auch nicht geeignet, die Beziehungen zur EU zu restaurieren.