In ihrer Wut über das Leid in Aleppo schiessen derzeit einige Kommentatoren über das Ziel hinaus.
Die Schlagzeilen gleichen sich und ihre Hauptaussage lautet: Aleppo stirbt und keiner tut etwas. Keiner kann etwas tun. Beides ist falsch und zynisch, denn es gibt viele Leute, die in Aleppo sind und etwas tun. Wer ihnen hilft, hilft indirekt auch der leidenden Zivilbevölkerung. Im Interview erklärt Louise Taylor, Sprecherin beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) in Genf, was ihre Kollegen in Aleppo und anderswo in Syrien leisten. Und wie man ihnen helfen kann.
Was ist das grösste Problem bei den Evakuierungen aus Ost-Aleppo?
Louise Taylor: Die humanitäre Lage in Ost-Aleppo ist katastrophal. Den Menschen fehlt es seit Monaten an den elementarsten Dingen und sie brauchen dringend medizinische Versorgung und eine Verschnaufpause. In Zusammenarbeit mit dem Syrischen Roten Halbmond (SARC) hat das IKRK am Donnerstag 3000 Zivilisten evakuiert, doch viele mehr warten noch auf Hilfe. Es ist eminent wichtig, dass der Waffenstillstand hält und die Evakuierungen in den kommenden Tagen weitergehen. Dann können wir auch zu den Menschen vorstossen, die in Ost-Aleppo verbleiben und ihnen die nötige Hilfe zukommen lassen.
Wohin fahren die Evakuierungsbusse eigentlich?
In das Umland von Aleppo und in die benachbarte Provinz Idlib.
Wie stellen Sie sicher, dass sie dort auch ankommen?
Unsere Mitarbeiter begleiten die Konvois während der wichtigsten Phase der Evakuierung und stehen in ständigem Kontakt mit den Kollegen vor Ort.
With so much going on in #Aleppo, our teams are still on the ground working round the clock to provide the needed support pic.twitter.com/ortM86jfmy
— SARC Aleppo (@SARC_Aleppo) 12. Dezember 2016
Wie viele Mitarbeiter haben Sie in Aleppo?
100 Freiwiliige des SARC und IKRK-Mitarbeiter sind in die Evakuierungen involviert. Unter dem Dutzend IKRK-Mitarbeiter befindet sich auch unser Delegationsleiter, der die Konvois zusammen mit der SARC-Zweigstelle in Aleppo anführt.
Was passiert mit den Menschen nach der Evakuierung?
Zunächst werden sie falls nötig medizinisch versorgt. Nachher kümmern sich gemäss unseren Erkenntnissen lokale Behörden, wohltätige Organisationen und die Lokalbevölkerung um sie.
Laut Medienberichten befinden sich unter den Evakuierten zahlreiche Waisenkinder. Was passiert nun mit ihnen?
Unter den traumatisierten Menschen befinden sich hunderte Kinder. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nicht bestätigen, dass es Waisen darunter hat.
Der Fokus des Syrienkonflikts lag zuletzt fast ausschliesslich auf Aleppo. Wo in Syrien ist das IKRK sonst noch präsent?
Wir haben Büros in Damaskus, Homs, Tartus und Aleppo.
Doch auch im Rest des Landes sind viele auf Hilfe angewiesen und auch dort sind die Zivilisten die Hauptleidtragenden. Das IKRK hat in diesem Jahr 55 Hilfslieferungen in belagerte oder schwer erreichbare Gebiete durchgeführt. Ein Tropfen auf den heissen Stein angesichts der humanitären Lage im Land. Die Zerstörung ist massiv, die Menschen haben Hunger, leiden unter der Kälte und sind verzweifelt. Sie sind kriegsmüde.
Wie gewährleisten Sie die Sicherheit Ihres Personals vor Ort?
Unser Sicherheitsansatz basiert auf dem kontinuierlichen Dialog mit allen Konfliktparteien, um als rein humanitäre Organisation ohne politische – oder sonst irgendeine – Agenda
akzeptiert zu werden. Das erlaubt es dem IKRK, möglichst viele Bedürftige auf allen Seiten zu erreichen und sein Personal und seine Partner einem akzeptablen Sicherheitsrisiko auszusetzen.
Even when winning is everything, there are lines that should never be crossed: https://t.co/NejG9EsYI3 #GenevaConventions pic.twitter.com/VG17hOGzlS
— ICRC (@ICRC) 31. Oktober 2016
Wie können die Menschen in Europa helfen?
Durch Spenden an humanitäre Organisationen, die im Krisengebiet tätig sind, zum Beispiel das IKRK.
Sie können auf die Einhaltung des Humanitären Völkerrechts pochen, damit möglichst viele erfahren, dass es im Krieg Regeln gibt. Und nicht zuletzt ist es wichtig zu verstehen, was jene Menschen durchmachen, die Orte wie Syrien verlassen und ihre Leben an einem fremden Ort neu beginnen müssen.
Die Menschen in Syrien sehnen sich nach Frieden. Und dieser Frieden kann nur entstehen, wenn die Menschen in der westlichen Welt besser verstehen, wie es überhaupt zu diesem Krieg kommen konnte.