Lisa Mazzone, im Oktober letzten Jahres wurden Sie in den Genfer Ständerat gewählt – mit einem Glanzresultat. Die Konkurrenz haben Sie weit hinter dir gelassen. Warum waren Sie so erfolgreich?
Lisa Mazzone: Wichtig war sicher der grosse Erfolg der Grünen, insbesondere in Genf, wo wir neu die grösste Partei des Kantons wurden. Die Bewegung für das Klima und die Umwelt verschaffte uns Grünen Aufwind. Und eine grosse Rolle hat auch die Frauenbewegung gespielt. Der Ständerat gilt als Kammer, in der Frauen sehr untervertreten sind. Die Genfer waren kühn genug, eine junge Grüne dahin zu schicken.
Sie sind von der Gemeinderätin in den Kantonsrat, in den Nationalrat und schliesslich in den Ständerat aufgestiegen. Wie haben Sie die ersten Wochen im Ständerat erlebt?
Es war schwierig. Es gibt viele Regeln und Traditionen, die nirgendwo aufgeschrieben sind, aber an die man sich halten muss. Ich musste zuerst einmal lernen, diese Verhaltensregeln zu verstehen und lernen, was angemessen ist und was nicht. Es gibt beispielsweise die Tradition, dass die Neugewählten während der ersten Session nicht sprechen, sondern nur zuhören sollen. Das wusste ich vorher nicht und hat mich sehr gestört. Ich wurde schliesslich nicht gewählt, um zu schweigen.
Und dann?
Solche Traditionen zu hinterfragen, kann natürlich auch heikel sein. Uns half, dass es noch nie so viele Neue im Ständerat gab wie nach den Wahlen im Oktober. 22 von den insgesamt 46 Ständeräten waren neu. Die fünf Grünen waren allesamt neu. Fast die Hälfte des Rates hätte also während drei Wochen schweigen müssen. Wir fanden einen Weg, die Regeln etwas zu lockern, ohne dass das als Bruch empfunden wurde.
Nach den Wahlen im Oktober hat sich der Frauenanteil im Ständerat verdoppelt. Was hat sich damit verändert?
Man merkt, dass es mehr weibliche Stimmen gibt. Man sieht mehr Frauen, man hört sie öfters sprechen. Das fällt auf.
Noch ist der Ständerat aber nach wie vor von Männern dominiert, der Anteil beträgt 74 Prozent. Wie erleben Sie das?
Nicht nur in der Kammer selbst, auch in den Kommissionen sind die Frauen nach wie vor stark untervertreten. Wenn man in diesen Gremien arbeitet, merkt man, dass man sich gewohnt ist, unter Männern zu sein. Wenn eine Frau das Wort ergreift, dann fällt das noch immer auf. Vor allem auch bei mir als grüne Frau, die zudem im Vergleich zu den anderen auch sehr jung ist. Das fühlt sich schon etwas seltsam an. Und es ist keine einfache Herausforderung, mir in diesem Kontext Platz zu verschaffen.
Müssen Sie sich deswegen mehr durchsetzen als Ihre männlichen Ratskollegen?
Es geht vor allem auch um mein Alter und den Lebensweg, insbesondere darum, dass ich keine Exekutiverfahrung habe. Das hat schon zur Folge, dass ich glaube, etwas beweisen zu müssen. Ein Teil davon ist vielleicht auch Druck, den ich mir selber mache. Was ja auch wieder typisch ist für Frauen. Wir sind oft sehr kritisch mit uns selber.
Nicht nur im Ständerat, auch im Nationalrat stieg der Frauenanteil von 32 auf 42 Prozent. Was hat die Frauenwahl generell verändert?
Als ich vor vier Jahren in den Nationalrat gewählt wurde, war ich die Jüngste im Rat und zudem als Frau in einer Minderheit. Das hat sich jetzt markant geändert. Es gibt mehr Junge und es gibt mehr Frauen. Wenn ich heute durch die Wandelhalle laufe, dann ist das eine andere Welt. Es ist normal, dass es überall Frauen gibt. Ich falle nicht mehr so auf und fühle mich nicht mehr so alleine. Das ist einiges angenehmer.
Ständig spricht man von der Repräsentation von Frauen in Politik und Wirtschaft. Was soll das eigentlich bringen? Ist es wirklich so anders, wenn sich Frauen und Männer die Posten 50:50 teilen?
Repräsentation ist wichtig, es geht ja darum, dass die Bevölkerung gut vertreten ist. Und ja, es macht tatsächlich einen Unterschied, ob nur Männer vertreten sind oder auch Frauen. Das ist wissenschaftlich bewiesen und hängt von der Sozialisierung ab. Frauen sprechen andere Themen an, bringen andere Kompetenzen mit, machen den Diskurs diverser. Sie sind tendenziell offener gegenüber Umwelt- oder Sozialthemen, sie suchen eher nach Lösungen für die ganze Gesellschaft.
Es gibt auch Frauen, die ganz genau dieselbe Politik und dieselben Ziele verfolgen wie ihre männlichen Parteikollegen. Da kommt es nicht wirklich auf das Geschlecht an.
Da würde ich widersprechen. Ich spüre bei den Frauen einen grösseren Willen, auch überparteilich zu arbeiten. Es gibt eine Offenheit, die über die Grenze der eigenen Partei hinausgeht. Und gerade wenn sich in der Gesellschaft etwas bewegt, so wie der Frauenstreik Hunderttausende bewegt hatte, beginnt sich auch bei diesen Frauen in der Politik etwas zu bewegen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Beim Thema Lohngleichheit oder bei den Frauenquoten. Dort gibt es inzwischen auch viele Frauen aus dem bürgerlichen Lager, die diese Forderungen unterstützen. Verschiedene FDPlerinnen haben da einen grossen Schritt nach vorne gemacht. Die Präsidentin der FDP-Frauen hat sich positiv über Frauenquoten geäussert. Da können wir anknüpfen.
Die Aktivistinnen des feministischen Streikkollektivs in Zürich sagen: «Unsere Forderungen haben sich nicht erfüllt. Viele Missstände haben sich durch die Coronakrise verschlechtert.» Wie sehen Sie das?
Das sehe ich auch so. Es gab ein paar politische Debatten, bei der uns die Energie nach dem Frauenstreik zugutekam. Zum Beispiel beim Vaterschaftsurlaub. Aber seither gab es noch keine Gelegenheit, die Anliegen der streikenden Frauen zu beantworten. Es gibt nach wie vor keine Lösung für die Rentenlücken von Frauen, es herrscht noch immer keine Lohngleichheit, auch bei der Kinderbetreuung gibt es keine Verbesserung.
Und schuld daran ist die Coronakrise?
Die Coronakrise hat den Ratsbetrieb auf Pause gestellt. Wir konnten unsere Themen vorerst nicht einbringen. Was nicht heisst, dass die Gleichstellungsthemen in den Hintergrund gerückt sind. Das ist insbesondere in den vergangenen Monaten sehr deutlich geworden.
Wie?
Die Männer waren in der Krise sehr präsent. Die Medien waren voll mit Experten, die zu Wort kamen, an den Pressekonferenzen des Bundesrates traten fast ausschliesslich Männer auf. Der wissenschaftliche Beirat des Bundesrates bestand ebenfalls fast nur aus Männern. Das Bild, das gezeichnet wurde war: In der Krise sind es die Männer, die uns retten. Dabei waren es vor allem Frauen, die in den systemrelevanten Berufen arbeiten und die uns durch diese Krise getragen haben.
Nach der Frauenwahl hat sich also bisher nicht wirklich etwas geändert. Zeigt das nicht: Selbst wenn Frauen ins Parlament gewählt werden, bleibt doch alles beim Alten…
Nein. Es zeigt, dass das Parlament Zeit braucht, um Umbrüche voranzutreiben. Und es zeigt, dass wir unterbrochen wurden. Es ist noch zu früh, um eine Bilanz zu ziehen. Was sich sicher verändert hat, ist die Stimmung. Als junge Frau fühle ich mich in der Wandelhalle nicht mehr wie eine Exotin.
Welche kommenden politischen Kampagnen sind betreffend der Gleichstellung für Sie besonders wichtig?
Die Abstimmung für den zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub zu gewinnen, ist mir sehr wichtig. Dann die Vorsorgelücken für Frauen zu schliessen, die Löhne von Berufen zu erhöhen, in denen Frauen übervertreten sind und die Kinderbetreuung zu verbessern. Denn die Ungleichheiten verstärken sich, sobald Eltern Kinder bekommen.
Sie sind auch frischgebackene Mutter, bekommen Sie alles unter einen Hut?
Mein Sohn ist ein Jahr alt und ja mein Partner und ich organisieren uns gut. Er geht in die Kita und ich habe meinen Vater, der bei der Betreuung mithilft. Er spielt eine sehr wichtige Rolle da drin.
Wann war der politische Lockdown und wie lange dauerte er?
Ich finde es unglaublich, dass sich in dieser langen Zeit seit den letzten Wahlen nicht mindestens alles grundlegend geändert hat.
Wie lange wollt ihr eigentlich noch Geduld haben? Sieben Monate müssten doch vollkommen reichen, um die Schweiz vollständig umzukrempeln.
Also ich verstehe die Ungeduld vieler Journalistinnen vollkommen.
Denn immerhin: Oktober 2019 - da war noch finsterstes Mittelalter. Und seither hat sich nichts verändert !?!?
Unglaublich!
Gleichberechtigung heisst eben auch, man kriegt nicht nur die ganzen Vorteile, sondern auch die Nachteile, die die Männer haben.