Das Foto mit den Fäusten entstand am Wahltag. Was hat es zu bedeuten?
Cédric Wermuth:
Die Pressefotografen wollten, dass ich enttäuscht reinschaue. Da habe ich gesagt: «Geht’s noch? Jetzt erst recht!» Daraus ist das Bild entstanden (lacht).
Im Vordergrund
sieht man SVP-Hardliner Andreas Glarner. Da kommt man auf gewisse
Gedanken...
Physische Gewalt löst keine Probleme. Aber die Linke muss lernen, dass mit dem Nettsein Schluss sein muss. Wir haben vielleicht zulange immer den parlamentarischen Konsens und die Konkordanz hoch gehalten. Das ist einer der Gründe, warum ich mich weigere, einen zweiten Bundesratssitz für die SVP zu akzeptieren.
Arithmetisch hat
sie aber ein Anrecht darauf.
Der Bundesrat ist ein politisches Gremium, keine statistische Grösse. So sollten wir ihn auch wählen. Es gibt in der Linken zwei Extrempositionen. Ein Teil findet, man müsse die SVP einfach ignorieren. Auf der anderen Seite stehen Rudolf Strahm oder Peter Bodenmann, die sich quasi für eine «Normalisierung» der SVP und damit und einen zweiten Sitz aussprechen. Ich halte beides für falsch.
Warum?
Die Positionen der SVP wurden nach und nach akzeptierter. Diese «Normalisierung» hat dazu geführt, dass Positionen, die vor 20 Jahren als rechtsextrem galten, heute im politischen Mainstream angekommen sind. Niemand hätte sich vorstellen können, dass man in der Schweiz ernsthaft über die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention diskutieren würde. Das ist völlig jenseits des liberalen Nachkriegskonsenses, aber die Initiative wird heute von den Medien so debattiert, als wäre das eine berechtigte Frage, die man ja mal stellen darf. Ich habe manchmal den Eindruck ich spinne, wenn ich das lese. Ich bin heute der Überzeugung, dass wir mit offenem Visier zum Angriff übergehen müssen.
Indem Sie die SVP
als Antidemokraten bezeichnen?
Es ist eine reine Tatsachenbeschreibung. Unsere politische Demokratie ist nicht einfach ein Mehrheitsentscheid der Stimmberechtigten. Das ist autoritär. Zur Demokratie gehört auch ein gesicherter Grundrechtekatalog für jeden Einzelnen. Die SVP greift diese zweite Säule und damit die Demokratie selbst fundamental an.
Dieser Vorwurf
trifft letztlich die knapp 30 Prozent, die am 18. Oktober die SVP
gewählt haben.
Natürlich. Es heisst immer, man müsse die Ängste der Menschen ernst nehmen. Ernst nimmt man sie aber nicht, wenn man verheerende Positionen übernimmt, sondern dann, wenn man ihnen in die Augen schaut und sagt: «Hei, hier liegst du falsch. Ich bin nicht einverstanden!»
Viele dieser
Leute sind für Gegenargumente kaum empfänglich.
Die Funktionsweise der SVP hat etwas so beängstigendes wie eindrückliches. Ihr ist der Aufbau einer echten Volksbewegung gelungen, das muss man anerkennen. Nach meinem Auftritt im «Talktäglich» war meine Mailbox
randvoll. Ich erhielt auch SMS und Briefe mit Inhalt der heftigsten Sorte. Dreiviertel davon sind wohl strafrechtlich relevant. Diese Empörung zeigt aber auch, dass man bei diesen Menschen einen Nerv trifft.
Die SVP schafft
es aber, diese Emotionen politisch zu instrumentalisieren.
Die SVP hat eine ideologische Grundlage geschaffen, die extrem selbstreferenziell ist. Gegen Fakten und die Realität ist ihre Basis heute praktisch immun. In diesem Paralleluniversum ist man nicht mehr ansprechbar. Das Schweizer Fernsehen oder watson können zehnmal beweisen, dass ein Asylsuchender nicht doppelt so viel Geld erhält wie ein AHV-Rentner, diese Leute glauben es trotzdem nicht. Ich habe im August selber naiverweise geglaubt, die Flüchtlingswelle könnte sich für einmal zu unseren Gunsten auswirken ...
... Sie waren
nicht der Einzige!
Im Nachhinein ärgere ich mich über mich selber. Faktisch hat es diese Leute wohl überhaupt nicht berührt.
Sie sehen nur die
Menschenmassen, die Richtung Europa unterwegs sind.
Wenn Medien berichten, wie schlimm die Situation der Flüchtlinge ist, handelt es sich um linke Mainstream-Propaganda. Die Wahrheit sagen Christoph, Toni oder neuerdings Roger. Die SVP hat ein eigenes Biotop geschaffen, auch dank ihren Medien, von der «Schweizerzeit» über BaZ bis hin zur Weltwoche. Das macht diese Bewegung auch so stabil. Als ich um 2003 neben der Juso begonnen habe, mich in der SP zu engagieren, hiess es stets, dieser Spuk sei bald einmal vorbei. Dem war überhaupt nicht so.
Es gibt ein
beachtliches Wählersegment, das der SVP unbeirrbar die Treue hält.
Wir müssen uns mit einer Generation auseinandersetzen, die politisch stark reaktionär geprägt wurde. Das hat leider erst angefangen. Die werden wir so schnell nicht mehr los. Darum ist es auch falsch zu glauben, nach vier, fünf Jahren mit zwei Bundesräten würde dann alles wieder gut. Selbst wenn die zwei SVP-Bundesräte nur Mist bauen würden, liegt die Interpretation schon bereit: Die linke Verwaltung und die linken Medien sind Schuld!
Es gibt einige schwule SVPler. Die Partei ist auch nicht einheitlich, es
besteht eine Diskrepanz zwischen dem libertären und dem
nationalkonservativen Flügel.
An der Basis ist die nationale, reaktionäre Linie extrem stark, während die Fraktion von radikalen Wirtschaftsanarchisten dominiert wird. Das ist an sich ein Widerspruch. Die SVP-Fraktion macht konstant Politik gegen die eigene Basis. Offenbar lässt das die Partei offensichtlich unberührt. Die mythisch aufgeladene, auf die eigene Kultur und Nation gerichtete Erzählung ist so stark, dass sie die Widersprüche überdeckt.
Folglich muss man
der SVP einen zweiten Sitz im Bundesrat verweigern?
Wir stehen vor drei, vier grossen unmittelbaren Herausforderungen: Die Integration in Europa, die Flüchtlingskrise, die Reform der Sozialwerke und die Energiewende. Sie lassen sich nur mit einem Minimalkonsens der Parteien bewältigen. Die SVP stellt nicht nur hier alles in Frage, sondern eben sogar die Grundlage unseres Rechtsstaates und die Menschenrechte. Das muss für die Linke heute eine rote Linie sein. Und für wirklich bürgerliche Parteien im wahren Sinne des Wortes – da gehört die SVP nicht dazu – eigentlich auch. Deshalb bin ich auch enttäuscht über die bürgerlichen Parteien.
Sie scheint den
zweiten SVP-Sitz ohne Widerstand hinzunehmen.
Die CVP müsste sich ein Herz fassen und eine Kandidatur mit einem eigenen Programm präsentieren. Aber dieser Zug ist wohl abgefahren. Wir warnen die Bürgerlichen seit vier Jahren, dass ihr zweiter Sitz weg ist, wenn sie keine engere Zusammenarbeit findet. Das ist nun passiert.
In einigen Jahren
sind die Mitteparteien vielleicht soweit.
Das ist möglich, aber für die BDP ist es dann zu spät. Sie wird ihren Sitz niemals zurückerhalten, und damit ist sie für ihr politisches Personal mittelfristig auch nicht mehr interessant. Bei den anderen Parteien habe ich schwerste Bedenken. Bürgerliche «Mitte» bedeutet nicht, dass man mal nach links oder rechts kippt. Es geht um die Entwicklung einer eigenständigen bürgerlichen Position, wie auch immer die aussehen mag. Mit der Übergabe des Sitzes an die SVP aber kapituliert sie vor dem Rechtsrutsch. Das gibt Leuten wie FDP-Chef Philipp Müller recht, die den Rechtsaussenkurs mittragen. Das ist brandgefährlich.
Eine vereinigte
Mitte müsste eher der FDP einen Sitz abnehmen.
So lange es keine Vakanz gibt, stellt sich die Frage wohl nicht. Diesen Mut hat das Parlament kaum. Dennoch finde ich, muss man sich für den 9. Dezember vorläufig alle Optionen offen halten. Es ist nicht des Teufels, zur Verhinderung einer Vierermehrheit von SVP und FDP im Bundesrat über einen FDP-Sitz zu diskutieren.
Dann erhält die
SVP doch einen zweiten Sitz?
Es wird objektiv schwierig, das zu verhindern. Deshalb ist es möglich, dass die FDP ins Fadenkreuz gerät.
Derzeit deutet
aber nichts darauf hin, dass ein Bisheriger abgewählt werden könnte.
Wir müssen die Kandidaturen abwarten, aber ja, die Wahrscheinlichkeit ist aktuell klein.
Müsste man im
Endeffekt über den totalen Bruch mit der arithmetischen Konkordanz
hin zu einer Mitte-links- oder Mitte-rechts-Regierung nachdenken?
Warum nicht? Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, eine Regierungsmehrheit auf der Grundlage eines Programms zu bilden. Dann müsste man aber auch so zu den Wahlen antreten, sonst wäre sie nicht legitim. Ich kann mir das vorstellen. Die Konkordanz war in einer bestimmten historischen Phase sicher sinnvoll, aber in Stein gemeisselt ist sie deswegen nicht.
Es könnte dazu
führen, dass die SP in die Opposition muss.
Ich bin kein Freund eines freiwilligen Rückzugs aus dem Bundesrat. Unsere Wählerinnen und Wähler erwarten, dass wir überall Verantwortung übernehmen, wo es möglich ist, gerade nach dem Rechtsrutsch. Es kann aber sein, dass die Bürgerlichen uns rauswerfen oder eine Konstellation entsteht, die wir nicht mehr mittragen können. Etwa wenn eine Bundesratsmehrheit Ja sagt zur Anti-EMRK-Initiative der SVP. Im Moment ist das nicht akut, aber es ist kein Tabu.
Wie soll sich die
SP angesichts der neuen Verhältnisse positionieren?
Das Land ist in einer tiefen Identitätskrise. Und wir wurden in den letzten Jahren zu stark als Teil des parlamentarischen Kompromisses und damit für viele als Teil des Problems wahrgenommen. Unter dem Präsidium von Christian Levrat wurde dieser Konsens vermehrt in Frage gestellt, etwa mit der Mindestlohn- oder der 1:12-Initiative. Dieser Weg ist richtig. Die SVP hat ihre Strategie während 20 Jahren aufgebaut, ohne mit ihren Volksinitiativen Erfolg zu haben. Auch wir müssen in solchen Zeiträumen denken. Das heisst auch, dass wir uns verstärkt Gedanken über eine orientierungsstiftende und handlungsleitende Vision machen müssen. Welche Gesellschaft wollen wir, welches sind unsere Schwerpunkte und wie können wir die Menschen davon überzeugen, sich gemeinsam mit uns auf den Weg zu machen?
In den letzten
Jahren hatte die SVP wiederholt Erfolg, etwa mit der Minarett- und
der Ausschaffungsinitiative. War der Widerstand dagegen gross genug?
Ich habe beide Initiativen unterschätzt, das muss ich zugeben. Das Ja zur Minarettinitiative war ein grosser Schock, ich hätte niemals damit gerechnet. Das war auch bei der Ausschaffungsinitiative der Fall. Die gesamte Linke hat das unterschätzt, ebenso den 9. Februar 2014. Er hat europapolitisch ein neues Zeitalter eingeleitet. Das muss nicht einmal negativ sein. Wir haben in den letzten zehn Jahren nie eine derart offene europapolitische Diskussion geführt.
Die
Masseneinwanderungsinitiative als heilsamer Schock?
Vielleicht ja. Wir haben in der SP erstmals wieder eine Beitrittsdebatte geführt. Der bilaterale Weg wurde bis vor kurzem nicht mehr hinterfragt, auch nicht von der SP. Das hat sich grundlegend geändert.
Was ist im
Hinblick auf die nächsten vier Jahre zu erwarten?
Vieles hängt von den Ständeratswahlen ab. Entscheidend ist, wie sich die politische Mitte verhält. Ich rechne damit, dass wir öfter zu einem Referendum gezwungen sein werden, als uns lieb ist. Das beginnt mit der Unternehmenssteuerreform III. Bei den Sozialversicherungen wird der Kompromiss des Ständerats im neuen Nationalrat kaum überleben.
Christian Levrat
muss in Freiburg um seinen Ständeratssitz zittern.
Es wäre natürlich der Supergau, aber da glaube ich nicht dran. Levrat ist ein hervorragender Stratege und Taktiker. Allerdings wird dieses Handwerk in den nächsten vier Jahren an Bedeutung verlieren. Wichtiger wird es sein, in der Gesellschaft ein Kräfteverhältnis aufzubauen, das dem Angriff auf die Sozialwerke oder die Menschenrechte widerstehen kann und mittelfristig wieder in die Offensive gelangt. Hier muss die Partei umdenken. Sie hat in den letzten Jahren viel Arbeit in sehr knappe parlamentarischen Mehrheiten investiert. Das wird so nicht mehr möglich sein.
Auf diese Weise
entstand das Image des Mitte-links-Parlaments.
Diese Image hat auch die SP gepflegt, das habe ich nie verstanden. Es ist objektiv falsch. Eveline Widmer-Schlumpf ist eine hervorragende Technokratin, aber keine Linke. Diese Überhöhung einer angeblichen Mitte-links-Mehrheit war und ist taktisch ein Fehler. Das gilt auch für die Energiewende oder den AHV-Kompromiss. Beides sind letztlich bescheidene Erfolge. Aber wenn wir die auch noch als linke Erfolge brandmarken, werden unsere Positionen unlesbar und verengen den politischen Spielraum unnötig.
"Die SVP hat eine ideologische Grundlage geschaffen, die extrem selbstreferenziell ist. Gegen Fakten und die Realität ist ihre Basis heute praktisch immun. In diesem Paralleluniversum ist man nicht mehr ansprechbar."
So baut man totalitäre Systeme auf...
Wer, ausser eines Unmenschen, könnte die Grenzen für an Leib und Leben bedrohte Menschen ganz zumachen wollen?
Wer, ausser eines Antidemokraten, könnte wehrlose Minderheiten mit Füssen treten wollen?
Wer, ausser eines Antidemokraten, könnte die Tyrannei der Mehrheit wünschen wollen.
Wer, ausser eines schweren Narzissten, könnte Bundesräte ungerechtfertigterweise als Landesverräter entwerten und selber keinerlei gerechtfertigte Kritik akzeptieren wollen?