Am 7. Dezember werden zwei Bundesratssitze frei. Überrascht Sie der Verzicht der Grünen auf eine Kampfkandidatur?
Gerhard Pfister: Ich habe schon 2019 gesagt: Wahlen müssen folgen haben. Denn seit dann haben die Grünen arithmetisch einen grösseren Anspruch auf einen Bundesratssitz als die SP oder auch die FDP auf zwei. Insofern ist der Verzicht der Grünen auf eine Kandidatur tatsächlich erstaunlich. Ein Bundesratssitz für die Grünen war noch nie so realistisch wie jetzt und rückt mit diesem aus meiner Sicht strategischen Fehler in eine ziemlich weite Ferne.
Im Oktober 2023 sind Wahlen. Wie können Sie heute schon ausschliessen, dass diese Konsequenzen für die Zusammensetzung des Bundesrats haben?
Ich treffe diese Aussage unter zwei Annahmen. Erstens, dass die Wahlresultate den aktuellen Umfragen entsprechen werden. Zweitens, dass im Dezember 2023 keine amtierenden Mitglieder des Bundesrates zurücktreten.
Ohne Erdrutschsieg bleiben die Grünen also von der Regierung ausgesperrt?
Wenn es auf Ende 2023 tatsächlich zu keinen Vakanzen kommt, dürfte ein Bundesratssitz für die Grünen noch schwieriger zu erreichen sein als jetzt. Selbst wenn sie zulegen würden. Denn einen Angriff auf ein amtierendes Bundesratsmitglied wird meine Fraktion nicht unterstützen. Dieser Grundsatz gilt für uns schon länger. Mit dem Verzicht auf eine Kandidatur rückt der erste Grünen-Bundesrat oder die erste Grünen-Bundesrätin in weitere Ferne.
Die Grünen kritisieren das «Machtkartell» der Bundesratsparteien, die ihren Besitzstand wahren wollen. Wenn ich Ihnen zuhöre, muss ich sagen: Die Partei hat recht.
Diesen Vorwurf weise ich zurück. Denn er dient den Grünen als Ausrede, um vom eigenen strategischen Versagen abzulenken. Die Grünen hatten jetzt drei Jahre Zeit, um sich auf eine solche Situation vorzubereiten. Wenn ich mir das Ergebnis anschaue, muss ich sagen: Diese Vorbereitungen waren wenig überzeugend.
Was hätten die Grünen denn anders machen sollen?
Was ich nicht verstehe: Nach dem Rücktritt von Ueli Maurer erklärten die Grünen nach zweieinhalb Wochen ihren Verzicht auf eine Kampfkandidatur. Sie sprachen von fehlender Gesprächsbereitschaft der anderen Parteien. Bei mir hatte sich niemand von der Parteispitze für ein Gespräch gemeldet. Aber ihre Argumentation hatte auch andere Fehler.
Welche?
Parteipräsident Balthasar Glättli und Fraktionschefin Aline Trede begründen den durchaus legitimen Sitzanspruch der Grünen widersprüchlich. Über einen Angriff auf den arithmetisch unbestrittenen zweiten SVP-Sitz brüteten sie wochenlang. Beim arithmetisch klar weniger legitimierten zweiten SP-Sitz gaben sie innerhalb einer halben Stunde nach Bundesrätin Sommarugas Rücktrittsankündigung Forfait. Mit der Begründung, man wolle die ökologischen – eigentlich meinten sie die linken – Kräfte im Bundesrat nicht schwächen. Das ist dann aber eine inhaltliche Argumentation.
Es ist doch nachvollziehbar, dass die Grünen lieber der FDP als der SP einen Sitz wegnehmen wollen.
Natürlich wäre das politisch in ihrem Interesse. Zumal auch der zweite FDP-Sitz im Bundesrat weniger legitimiert ist als ein Sitz der Grünen. Doch sie senden damit auch das klare Signal aus, dass sie im linken Lager die Rolle des Juniorpartners spielen wollen.Als linker Wähler oder linke Wählerin würde ich mir überlegen, ob es sinnvoller ist, meine Stimme 2023 einer linken Bundesratspartei oder einer selbstgewählten linken Nicht-Bundesratspartei zu geben. Das Beharren der Grünen, ausschliesslich die im Vergleich zur SP unwesentlich schwächere FDP anzugreifen, widerspricht dem Sinn der Konkordanz.
Unter Konkordanz versteht jeder etwas anderes. Was ist Ihre Definition?
Konkordanz bedeutet, dass alle wesentlichen Kräfte im Verhältnis zu ihrer Wählerstärke und Vertretung in der Bundesversammlung auch in der Regierung vertreten sein sollten. Konkordanz ist das Gegenteil einer inhaltlich zusammengesetzten Koalitionsregierung. Die Wählerinnen und Wähler in der Schweiz bestimmen, welchen Parteien welche Stärke zukommen soll. Im Gegensatz zu Koalitionsregierungen haben die Parteien in der Schweiz keine staatspolitische Legitimation, zu bestimmen, mit welchen anderen Parteien sie zusammen eine Regierung bilden wollen.
Nach den letzten Wahlen luden Sie die anderen Parteispitzen zu einem Konkordanz-Gipfel, der jedoch nichts Zählbares hervorgebracht hat. Muss die Schweiz auf absehbare Zeit mit der Instabilität einer nicht repräsentativen Regierungszusammensetzung leben?
Im Interesse der Stabilität des Landes müssen wir alle wesentlichen Kräfte im Bundesrat integrieren, sonst haben wir ein Oppositionsmodell. Doch diese Integration geht nicht von heute auf morgen. Die Vorläuferin meiner Partei, die CVP, war die entscheidende Kraft hinter der Einführung der ursprünglichen Zauberformel von 1959. Um diese zu etablieren, brauchte es ein schrittweises Vorgehen über mehrere Jahre und Vakanzen hinweg. Das ist heute schwieriger geworden.
Woran liegt das?
Heute ist die politische Landschaft pluralistischer und die Konkurrenz grösser.
Ist damit auch das Zeitalter der Konkordanz vorbei?
Der frühere CVP-Ständerat Carlo Schmid sagte einst: «Wir sind zur Konkordanz verdammt.»
Darum habe ich bereits 2019 gesagt, dass Wahlen mittelfristig Folgen haben müssen. Meine Partei musste das sogar schmerzhaft erfahren, als die Bundesversammlung ein amtierendes Mitglied des Bundesrates nicht wiederwählte. 2003 wurde, ebenfalls mit einer gewissen Verzögerung auf den Wählerzuwachs, der Anspruch der SVP auf einen zweiten Sitz eingelöst. Das wird auch bei gleichbleibenden Wahlresultaten der Grünen dereinst der Fall sein.
Wann?
Bei jeder Vakanz im Bundesrat einer klar übervertretenen Partei wird man darüber diskutieren müssen, ob nicht eine andere Partei einen legitimeren Anspruch auf den frei werdenden Sitz hat. Ich stelle fest: Gegenwärtig gibt es vier Parteien, deren Wähleranteile sich nur um wenige Prozentpunkten unterscheiden. Von diesen vier ungefähr gleich starken Parteien haben zwei Parteien je zwei Sitze im Bundesrat, eine Partei einen und eine vierte Partei gar keinen Sitz im Bundesrat. Das ist nicht die Abbildung des Willens der Wählerinnen und Wähler.
Sie haben den Bundesrat in den letzten Jahren oft wegen mangelnder Führungsstärke und fehlenden Zusammenhalts kritisiert. Was muss sich bessern?
Die Arbeitsweise des Bundesrats als Gremium. In manchem Departementsstab herrscht das Verständnis, man sei vor allem die PR-Abteilung des jeweiligen Vorstehers. Da wird primär versucht, den eigenen Chef oder die eigene Chefin auf Kosten der anderen Bundesratsmitglieder besser dastehen zu lassen. Das muss aufhören. Die Kollegialität muss gestärkt werden. Vielleicht hilft es ja, dass die SP-Bundesratsmitglieder jetzt keine Angst mehr haben müssen vor einer Abwahl zu Gunsten der Grünen.
Nach diesem Interview können auch die FDP-Magistraten ruhiger schlafen.
Sagen wir es so: Wenn das Interview in den Stäben des Aussendepartements und des Justizdepartements (EJPD) dazu führt, dass der Sitzerhalt für ihre Vorgesetzten nicht länger im Fokus ihrer Arbeit steht, dann hat es seinen staatspolitischen Zweck erfüllt.
Welche Fähigkeiten müssen die neuen Bundesratsmitglieder haben?
Die Erwartung meiner Partei ist klar: Wir werden von den Kandidierenden wissen wollen, ob sie sich als Mitglieder einer Kollegialregierung verstehen und entsprechend handeln. Und ob sie genügend Führungsstärke besitzen, um das eigene Departement wirklich zu lenken.
Haben Sie Favoritinnen und Favoriten im Kandidatenfeld von SVP und SP?
Ich stelle fest, dass bei beiden Parteien gutes bis sehr gutes Personal zur Verfügung beziehungsweise zur Diskussion steht. Wir werden sehen, wer es auf das Ticket schafft.
Was erwarten Sie von der Departementsverteilung nach den Wahlen?
Das ist Sache des Bundesrats. Aber ich erwarte von den Bundesratsmitgliedern ein stärkeres Verständnis dafür, Teil einer Kollegialbehörde und nicht nur Departementsvorsteherin oder Departementsvorsteher zu sein. Ich wünsche mir, dass der Bundesrat sich im Konsens über die Verteilung der Departemente einigen kann. Kampfabstimmungen, wie sie auch schon vorgekommen sind, waren einer guten Zusammenarbeit im Bundesrat in der Regel eher abträglich. (aargauerzeitung.ch)
Diese Halbherzigkeit beim Machtanspruch reicht aus meiner Sicht nicht aus und die Grünen werden wohl noch ein Weilchen ohne BR auskommen müssen.