Es ist das Jahr des Gotthards. Neat-Eröffnung, Abstimmung über einen zweiten Strassentunnel. Zeit, um mit Peter von Matt über den Mythos Gotthard zu diskutieren. Kein Schweizer hat sich intensiver mit diesem Pass auseinandergesetzt als der Schriftsteller und Literaturwissenschafter. Und weil Peter von Matt bevorzugt schriftliche Interviews gibt, dabei aber so präzise und schön formuliert wie kaum ein anderer, hat diese Zeitung eine Ausnahme gemacht. Dieses Interview ist über einen E-Mail-Austausch entstanden.
Sehr geehrter Herr von Matt. Sie bezeichnen den Gotthard als «helvetischer Sinai». Wieso?
Er ist ein Teil der politischen Selbstverklärung der Schweiz und gehört spätestens seit dem 18. Jahrhundert zu den nationalen Symbolen. Vor allem im 19. Jahrhundert haben alle europäischen Nationalstaaten fast hektisch nationale Symbole produziert, um sich gegenüber den anderen Staaten als einzigartig zu präsentieren.
Was tat die Schweiz?
Sie hat sich auch reichlich mit heroischen Denkmälern dekoriert. Parallel dazu gab es die geografischen Punkte von ähnlicher Symbolkraft. Das Rütli, der Gotthard, das Schlachtfeld von Sempach, die hohle Gasse. Diese hat man damals sogar nachträglich zu einem Hohlweg umgebaut, damit sie auch in Wirklichkeit so aussah, wie man sie sich in der Tell-Geschichte vorstellte. Das hatte, wie alles in der Schweiz, auch eine ökonomische Seite. Die Verquickung der nationalen Symbole mit dem Tourismus hat sich immer gelohnt.
Der Berg ist weder schön noch hoch. Wie konnte er ein Schweizer Mythos werden?
Er ist gar kein Berg, er ist ein Pass-Übergang. Aber der entscheidende Gedanke war beim Gotthard schon im 18. Jahrhundert, dass er der Ort sei, wo alle grossen Ströme Europas entspringen, das Herz, aus dem das Blut des ganzen Kontinents strömt.
Was nicht stimmt.
Es stimmt geografisch nur in Hinsicht auf die Reuss und den Ticino, und auch der kommt vor allem aus dem Bedrettotal, vom Nufenen her. Und die Rhone kommt von Furka und Grimsel her, der Rhein aus den Bündner Tälern und der Inn, der später zur Donau wird, aus dem Engadin. Aber die Vision vom einzigen Herzen Gotthard war so stark, auch bei ausländischen Autoren, dass man sich diesen angeblichen Berg als eine ragende steinerne Masse vorstellte, aus der das Wasser in alle Himmelsrichtungen schiesst.
Es gab alternative Varianten zum ersten Gotthard-Tunnel. Durch den Splügen zum Beispiel. Mein Vorgesetzter, der aus dem Kanton Graubünden stammt, mag den Gotthard deshalb bis heute nicht.
Ihr Vorgesetzter hat völlig recht. Der Splügen war ursprünglich die zweite Variante, und es gab fürchterliche Auseinandersetzungen um die zwei Routen.
Wieso fiel der Entscheid zugunsten des Gotthards?
Dieser Tunnel durch die Alpen war ein europäisches Projekt. Er wurde von Deutschland, Italien und der Schweiz gemeinsam geplant und bezahlt. Und er war im Grunde auch ein militärisches Projekt. Deutschland respektive Preussen war damals mit Italien politisch liiert, und zwar gegen Frankreich. Deshalb wollte Bismarck, der preussische Ministerpräsident und spätere deutsche Kanzler, eine direkte Verbindung nach Italien. Er war es auch, der den Ausschlag gab für die Gotthardroute, nicht weil er sie besser fand als den Splügen, sondern weil sonst wegen des Streits überhaupt kein Tunnel gebohrt worden wäre. Er erklärte das am 26. Mai 1870 in einer Rede vor dem preussischen Parlament.
Was geschah dann mit den Anteilen Preussens und Italiens?
Die Schweiz hat einige Jahrzehnte später die Besitzanteile der zwei andern Länder am Tunnel aufgekauft. Als das Werk fertig war, erhielten alle Arbeiter, die den Bau überlebt hatten, eine Münze mit den drei Wappen von Deutschland, der Schweiz und Italien, darunter steht auf Lateinisch: «Mit vereinten Kräften». Aber dass wir das nicht allein gemacht haben, haben wir sorgfältig vergessen. Auch dass die meisten Arbeiter Italiener waren.
In Ihrer Essay-Sammlung «Das Kalb vor der Gotthardpost» schreiben Sie, «die Verquickung von Fortschrittsglauben und Konservatismus, ein janusköpfiges Voraus- und Zurückschauen zugleich, ist eine Eigentümlichkeit der Schweiz im politischen wie im literarischen Leben». Ist der Gotthard nun ein «Mythos» der Konservativen oder der Liberalen?
Ich hasse das Wort Mythos im politischen Zusammenhang. Es ist heute ein Ramschwort geworden für alles und jedes. Der Gotthard als Pass und der Gotthard als Tunnelsystem sind zwei nationale Symbole von je ganz eigener Art. Als Pass wird er heute noch von politischen Pathetikern als Herz der Schweiz gehandelt, als Tunnelsystem aber ist er das Paradestück der Schweizer Technologiegeschichte. In dieser Hinsicht verkörpert er den Fortschrittswillen der Schweiz, aber auch den frühen Willen des Landes zu europäischer Zusammenarbeit.
Wie meinen Sie das?
Die Schweiz hat ja in der Geschichte nur deshalb überlebt, weil die Grossmächte einander die Alpenpässe nicht gönnten und deshalb die Schweiz als Hüterin dieser Pässe wollten, die für alle offengehalten werden mussten. Das war von Napoleon über den Wiener Kongress bis zu Bismarck das Hauptinteresse der Grossmächte an unserem Land. Und die Schweiz hat das immer gewusst und hat diese Aufgabe auch sorgsam wahrgenommen, zum Selbstschutz. Noch Hitler konnte die Gotthardlinie bis zuletzt für versiegelte Transporte benutzen. Alles, was mit dem Gotthard zusammenhängt, ist gewissermassen ein Symbolklumpen, von dem sich jeder nehmen kann, was in seinen jeweiligen Kram passt.
Der Gotthard ist auch das Herz des Réduits. Die Schweiz bohrte sich in den Gotthard rein.
Das Réduit war eine militärische Strategie von General Guisan, die bis heute umstritten ist, aber im Nachhinein nicht einfach als falsch deklariert werden kann. Der General wusste, dass die Schweiz an den Landesgrenzen nur ganz kurze Zeit hätte verteidigt werden können, dass eine Eroberung der Alpen aber die Pässe für lange Zeit unbrauchbar gemacht hätte. Alle Brücken im Alpenraum waren vermint. Er konnte nicht verhindern, dass die Deutschen und Italiener zusammen die Schweiz erobert hätten, aber er konnte es so einrichten, dass es sich für sie nicht lohnte. Das war ein Risikospiel, vor allem weil Hitler irrational zu entscheiden pflegte. Da Deutschland aber auch noch die Schweizer Banken brauchte und ebenso die Schweiz als internationales Spionagenest und als Ort geheimer politischer Kontakte und als Waffenlieferantin, sind wir schliesslich davongekommen. Das Bohren war also schon auch ein Überlebensfaktor.
Woher kommt eigentlich dieser notorische Bohrdrang in der Schweiz?
Jede Kultur, technisch wie künstlerisch, wird von der Geografie ihres Landes geprägt. Wo Berge sind, gibt es Felswände und Schluchten, also muss man bohren und Brücken bauen.
Brücken? Wir feiern in der Schweiz Tunnel.
Die Brücken und die Technik des Brückenbaus sind für unsere Kulturgeschichte genauso wichtig wie die Tunnel. Der Gotthard selbst war jahrhundertelang kein Bohrproblem, sondern ein Brückenproblem. Das lebt in der Sage von der Teufelsbrücke weiter, und man sieht es in der Schöllenen heute noch. Man darf also die Schweizer Brückenbauer nicht vergessen, wenn man die Tunnelbohrer feiert. Die Schweizer Brückenbauer haben ja in der ganzen Welt gewirkt. Dass der Gotthard beispielhaft ist für den Tunnel- wie auch den Brückenbau, zeigt wieder den Symbolklumpen.
Wenn jeder etwas in diesem Symbolklumpen findet, dann muss der Gotthard für die Schweiz wirklich von zentraler Bedeutung sein.
Man muss schon aufpassen, dass man den Gotthard nicht zum einzigen politisch-technischen Ereignis der Schweiz erklärt. Als Pass ist er ja nicht besonders alt. Die wichtigsten Schweizer Pässe waren ursprünglich die von den Römern benutzten und erschlossenen, die Bündner Pässe und die Walliser in Verbindung mit Grimsel, Furka, Brünig. Wir haben unsere Kultur von den Römern. Die Germanen haben nur die Hosen erfunden und Bier gebraut. Wir sind viel mehr Römer als Germanen oder Alemannen.
Woran sieht man das?
Die Römer brachten den Weinbau in dieses Land, den Strassenbau, die gemauerten Häuser, die Ziegeldächer, das römische Recht, die Grammatik und eine hoch entwickelte Technologie. Selbst der Käse ist römisch, man sieht das am Namen. Diese Kultur kam über die Bündnerpässe und dann über den Walensee und den Zürichsee. Die Schöllenen war damals noch lange unpassierbar.
Der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt führte in der Zeit um den Bau des ersten Gotthardtunnels (1872) den Begriff der «beschleunigten Processe» ein. Heute würden wir das mit Globalisierung übersetzen. War der Gotthard ein Globalisierungstreiber?
Sobald man den gegenwärtigen Denkzwang ablegt und nicht alles nur auf die Schweiz hin betrachtet, sieht man glasklar, dass der Gotthard seit seiner Erschliessung ein Ereignis der kontinentalen Kommunikation war. Er war ein Handelsweg nach Italien, eine Exportroute für Abertausende von Schweizer Söldnern, ein Einfallstor für die italienische Kultur und den humanistischen Geist. Die Innerschweizer Bauern haben seit Urzeiten mit der Lombardei und dem Piemont Handel getrieben, genauso wie die Romands mit Burgund und Frankreich, die Zürcher mit dem Elsass und Süddeutschland. Im Weltbezug der Schweiz war und ist der Gotthard ein wichtiger Faktor. Er ist ein Symbol unserer Weltoffenheit.
Wofür steht der Gotthard für Sie persönlich?
Ich war Soldat in einem Gebirgsschützenbataillon und habe die meisten WKs im Gotthardgebiet absolviert. Daher habe ich einen nüchternen Blick auf die Gegend. Wenn man tage- und nächtelang über die Geröllhalden marschiert ist und oft aus jeder Pfütze getrunken hat, um nicht zu verdursten, weil die beste Armee der Welt ihre Soldaten nicht mit Trinkwasser versorgen konnte, denkt man etwas anders von der hehren Bergwelt. Ich würde nie auf dem Gotthard eine Rede halten über das Herz der Schweiz. Dort oben feierlich herumschwadronieren ist etwas für Leute, die in angenehmen Villen leben und die Alpen von weitem sehen.
Ist der Bau einer zweiten Röhre eigentlich fortschrittlich oder konservativ?
Er ist ein technisches und ein politisches Problem, und mir scheint, die beiden Dinge sind noch lange nicht in dem Masse gegenseitig abgewogen, wie sie sein sollten.
Ohne Alfred Escher, den Gründer der Kreditanstalt, kein Gotthard.
Escher hat den Bau der Strecke initiiert, wie er überhaupt den Eisenbahnbau in der Schweiz wesentlich vorangetrieben hat. Aber der Gotthard wurde für ihn zur Tragödie. Es gab Kostenüberschreitungen, die man ihm persönlich anlastete – elf Prozent, heute meistens die Regel. Zur Feier des Durchstichs hat man ihn nicht einmal mehr eingeladen. Seine Macht war lange fast unbegrenzt gewesen, da wuchsen auch Feinde heran. Einer der fiesesten war sein Schwiegersohn, der Bundesrat Welti, der auch Eschers Tochter in den Tod trieb.
Welche Rolle spielt der Pass in der Schweizer Literatur, mal abgesehen von der Teufelsbrücke?
Wieder nur die Frage nach der Schweiz. Leben wir eigentlich in einem Aquarium? Der Gotthard ist ein Thema der Weltliteratur.
Wo denn?
Er spielt bei Goethe, der mehrmals oben war, eine ausserordentliche Rolle, biografisch und literarisch, und das Bild der Gotthardlandschaft wurde mitgeprägt durch die Inszenierung der Innerschweizer Landschaft in Schillers «Tell». Dem entsprechen in der Malerei etwa die Bilder von William Turner. In der Schweizer Literatur taucht er häufig auf, bald mehr heroisch, bald mehr ironisch wie etwa im Roman «Die künstliche Mutter» von Hermann Burger. Ich weiss auch, dass es Sammlungen mit Geschichten um den Pass und die Bahn gibt. Emil und sein «Chileli vo Wasse» sollte man ebenfalls nicht vergessen, die Kehrtunnel sind ja auch ein Teil des Symbolklumpens.
Der Gotthard war für die Säumer gefährlich. Heute, hat man das Gefühl, findet man die Gefahr nur noch im Tunnel wegen des Gegenverkehrs.
Die Alpen bleiben gefährlich. Auch wenn die Tourismusindustrie heute alles daransetzt, sie zu einem einzigen Funpark zu machen und die letzten Schneehasen und Auerhähne auszurotten. Man kommt dort oben immer noch sehr rasch ums Leben.
Gotthard ist auch eine Rockband. Verdient der Berg diese Band?Das kann ich nicht beurteilen. Musikalisch kenne ich aus meiner Kindheit nur «Übere Gotthard flüget d Bräme».