Als Pflichtverteidiger müssen Sie Vergewaltiger, Mörder, Wiederholungstäter vor Gericht vertreten. Jetzt den «Heiler von Bern». Wie verteidigt man solche Fälle?
Ernst Reber: Ich verteidige keine Taten, ich verteidige Täter.
Kann man das? Die Tat und den Täter trennen?
Ja. Es geht bei jedem Fall – mag er noch so schlimm sein – um den Menschen hinter der Tat. Einmal habe ich einen Mann verteidigt, der einen anderen getötet hatte. Er war geständig. Und ein ganz angenehmer Mensch. Ich unterhalte mich heute noch gern mit ihm.
Sie können also den Menschen sehen und seine Taten ausblenden?
Meistens, ja. Es ist wichtig, den guten Kern zu entdecken, der in jedem Menschen drin ist. Vielleicht ist er zugeschüttet, vielleicht ist er winzig. Aber er ist immer da. Solange man diesen Kern zu finden imstande ist, kann man gut verteidigen. Wenn nicht, ist eine gute Verteidigung schwierig.
Das mag für viele Leute unverständlich klingen. Erhalten Sie negative Reaktionen, wenn Sie schwere Fälle verteidigen?
Ich werde ab und zu gefragt: ‹Wie kannst du das?› Auch die Leserbriefe zu den Artikeln rund um den Heiler-Prozess waren schlimm – unter anderem gegen die Verteidigung. Doch die ignoriere ich. Wenn jemand nicht verstehen kann, warum es überhaupt eine Verteidigung braucht, gibt es nicht viel zu diskutieren.
Erzählen Sie Ihren Kindern von den solchen Fällen?
Nein, eigentlich nicht. Wenn ich Zuhause bin, tauche ich in eine andere Welt ein. Aber sie wollen natürlich manchmal wissen, was ich tue. Wenn ich mir morgens eine Krawatte umbinde, wissen sie: Jetzt geht er ans Gericht.
Der Heiler beteuert seine Unschuld. Glauben Sie ihm?
Es geht nie darum, was ich einem Klienten glaube. Es geht auch nicht darum, was ich selbst glaube. Es geht nur darum, was gegen den Klienten spricht. Ich urteile also nicht. Wenn mein Klient sagt, er sei unschuldig, dann fahre ich diese Strategie. Entweder ich kann das, oder ich kann das nicht. Wenn ich es nicht kann, sollte ich das Mandat nicht annehmen.
Was, wenn Sie mehr wissen als die Richter?
Wenn ein Klient mir gegenüber quasi ein Geständnis ablegt, aber will, dass ich einen Freispruch verlange? Das wäre eine heikle Situation. Das ist mir aber noch nie passiert.
Bei einem zu engen Vertrauensverhältnis könnte das aber wahrscheinlich passieren, oder?
Ja. Mir ist es deshalb lieber, ich weiss – neben der vorgeworfenen Tat und seinen persönlichen Verhältnissen – nicht zuviel über den Klienten. Ich sehe mir lieber einfach die Beweislage zu den aktuellen Vorwürfen an.
Sie treten gegen sechs Anwälte und den Staatsanwalt an. Wie ist das?
Nicht einfach. Alle hacken natürlich auf der Verteidigung rum. Da braucht es schon ein gutes Selbstwertgefühl und das Bewusstsein, dass das die Regeln sind – zwei Parteien, ein Gericht. Zugegeben, ich habe mich auch schon einsam gefühlt im Gerichtssaal. Aber nicht verloren oder angegriffen. Staatsanwaltschaft und Gegenanwälte haben mich immer geachtet und meine Arbeit respektiert.
Wie sind Sie Pflichtverteidiger des Heilers geworden?
2007 hat er mich angefragt, ich habe zugesagt. 2010 habe ich dann den Antrag auf Pflichtverteidigung gestellt.
Pflichtverteidigungen sind Mandate, die Anwälten normalerweise zugeteilt werden.
Ja. Im Kanton Bern haben wir ein Verteidigerpikett. In grösseren zeitlichen Abständen ist jeweils eine Hand voll Anwälte während einer Woche auf dieser Liste. Wenn in dieser Zeit ein Fall der notwendigen Verteidigung eingeht, wird man von der Polizei oder Staatsanwaltschaft angefragt.
Die Staatsanwaltschaft kann sich ihren Gegner also aussuchen?
Ja, das ist tatsächlich so. Es hat ja mehrere, die auf dieser Pikett-Liste sind. Aus denen kann die Staatsanwaltschaft aussuchen oder theoretisch die Haft einfach erst eröffnen, wenn ein bestimmter Anwalt wieder Pikettdienst hat. Und das ist sicher ein Problem. Man wird das verbandsintern aushandeln. Man bräuchte eigentlich eine unabhängige Stelle, die den Verteidiger jeweils bestimmt.
Gibt es Fälle, die niemand übernehmen will?
Klar gibt es weniger spannende Fälle. Drogendelikte beispielsweise sind eher langweilig. Ein gutes Arbeitsfeld für Praktikanten.
Kann man Nein sagen?
Theoretisch schon. Wenn man keine Kapazität hat oder der Fall in einem Bereich liegt, dem man sich verweigert. Ich habe beispielsweise lange kein Sexualstrafrecht gemacht. Aber man kann nicht jedes Mal sagen, ich will das jetzt nicht. Das wäre seltsam. Schliesslich gehören Pflichtverteidigungen zum Beruf.
Lohnen sich die Fälle finanziell?
Der Stundenansatz, den ein Klient privat zahlt, ist höher als jener, den der Staat zahlt. Andererseits ist es ein Geldbetrag, dem man nicht nachrennen muss, ein sicheres Honorar quasi. Unattraktiv sind Pflichtverteidigungen aber nicht, sonst würde ja niemand mehr Strafrecht machen. Ausserdem – wenn man einen Freispruch erwirkt, ist der Honoraransatz höher.
Gibt es aussichtslose Fälle?
Nein. Jeder Fall hat seine Aussicht. Mindestens diejenige, dass man die Strafe dem Menschen anpasst.
Nehmen Sie jeden Fall an?
Nein. Mehr als zwei Mal vertrete ich denselben Täter nicht. Wenn man zum dritten Mal vor Gericht sagen muss: ‹Das ist eigentlich ein Guter›, dann wird das langsam peinlich.