Aline Wüst, Du hast zwei Jahre lang im Schweizer Rotlichtmilieu recherchiert, mit Prostituierten und Freiern gesprochen. Wenn Du die Sexarbeit in einem Satz beschreiben müsstest, welcher wäre das?
Aline Wüst: Unser Bild von Prostitution ist falsch.
Was haben wir denn für ein Bild davon?
Dass Prostitution eine Wahl ist. Ein Job wie andere. Es ist extrem schwierig, als Aussenstehende hinter die Fassaden zu blicken. Der Grossteil der Frauen äussert sich nicht öffentlich. Die wenigen, die es tun, berichten, dass sie sich aus eigenen Stücken dafür entschieden haben und es auch gerne tun. Es ist ein verzerrtes Bild – das wir aber oft dankbar annehmen.
War es schwieriger, das Vertrauen der Freier oder dasjenige der Sexarbeiterinnen zu gewinnen?
Die Freier waren einfacher. Einerseits weil da keine Sprachbarriere war, andererseits waren sie sehr nett zu mir. Bei den Frauen war es sehr schwierig, ihr Vertrauen zu gewinnen. Am Anfang der Recherche bin ich fast verzweifelt. Ich fand lange überhaupt keinen Zugang zu ihnen. Du siehst diese Frauen zwar nackt auf irgendwelchen Portalen im Netz, im Bordell stehen sie in Reizwäsche vor dir, aber sie geben kaum etwas von sich preis. Verständlich.
Über die Puffmutter Anna, der Du ein eigenes Kapitel widmest, kamst Du schliesslich in ein Bordell rein. Wie war es, Abend für Abend dazusitzen?
An einigen Abenden sass ich da, ohne dass etwas passierte. An anderen erzählten mir Frauen ihre Lebensgeschichten. Ich habe schnell gemerkt, dass ich nichts fordern kann. Die Frauen erzählen das, was sie wollen, wann sie es wollen. Also musste ich warten. Aber wenn sie es taten, redeten sie so viel, dass ich kaum Fragen stellen musste.
Die Erzählungen ähneln sich. Die meisten Frauen haben Gewalt erlebt, berichten von extrem brutalen Freiern, kommen aus wirtschaftlicher Not in die Schweiz, um für mehrere Wochen anzuschaffen. Bei den meisten steht ein Mann dahinter, der den Frauen einen Teil des verdienten Geldes abnimmt.
Ein Grossteil der Frauen aus Osteuropa, mit denen ich gesprochen habe, prostituiert sich wegen eines Mannes, eines sogenannten Loverboys. Sie sagen, er liebe sie, er sei ihr Freund, er will, dass sie anschaffen, und sie wollen ihn nicht verlieren, also tun sie es.
Du berichtest von einem Taxifahrer aus Rumänien. Der beschreibt, wie die Männer dort BMW fahren und sich von zwei bis drei Mädchen das Leben finanzieren lassen. Es scheint, als würden viele Frauen immer wieder dem gleichen Muster verfallen. Wie kommt es dazu?
Ich glaube nicht, dass sie reinfallen. Es ist nicht ihre Schuld. Denn die Täter gehen sehr perfid vor. In Rumänien habe ich mit der Leiterin eines Schutzhauses gesprochen, die es so erklärt: Viele dieser Mädchen wachsen in Heimen auf, leben in extremer Armut, erhalten kaum Liebe und erleben viel Gewalt. Ein Loverboy hat da leichtes Spiel. Auch wenn er sie schlägt. Das kennen sie alles. Der einzige Unterschied ist, dass er ihnen zusätzlich sagt, dass er sie liebt. Die Leiterin sagte: Das macht im Leben der Mädchen einen himmelweiten Unterschied.
Ein Gespräch zwischen zwei Freiern ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Darin beschweren sie sich über den Service der Frauen. Sie beklagen sich, dass diese immer so kalt seien und sich nicht wundern müssten, wenn die Kunden nicht mehr kämen. Das klang für mich wie ein Hohn. Die Männer wollen wenig Geld bezahlen, den Sex ihres Lebens und die Frau muss auch noch maximal Spass dabei haben. Das ist doch absurd.
Ich habe immer versucht, mich in die Situation meines Gegenübers zu versetzen. Auch bei den Freiern habe ich das gemacht. Und im Kern geht es meist um ein ur-menschliches Bedürfnis – den Wunsch nach Liebe und Anerkennung. In diesen Momenten konnte ich die Sicht des Freiers ein Stück weit nachvollziehen. Aber wir müssen uns am Ende trotzdem fragen, was wir höher gewichten: das Bedürfnis eines Mannes oder das Leben einer Frau.
Prostitution ist also nicht mit einem gewöhnlichen Job zu vergleichen?
Nein, auf keinen Fall. Diese Frauen berichten, dass sie Drogen nehmen und Alkohol trinken, um das zu überstehen. Sie dissoziieren, das heisst, sie spalten ihre Persönlichkeit, um es auszuhalten. Die Rate an psychischen Erkrankungen ist enorm, die Suchtrate ebenfalls. Es gibt Frauen, die sich das Leben nehmen. Wir hören nur nicht davon, weil die Frauen zu sehr im Überlebensmodus sind, um sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Weil sie in Angst leben vor ihren Zuhältern und Loverboys. Und wahrscheinlich wollen wir diesen Frauen auch lieber nicht zuhören. Weil die Wahrheit über Prostitution sehr unbequem ist.
Zwei Prostituierte kommen auf eine Altersbegrenzung zu sprechen. Sie fordern, dass man mindestens 30 Jahre alt sein muss, um anzuschaffen. Alles andere sei zu jung. Was hältst Du davon?
Diesen Vorschlag mit der Altersbeschränkung habe ich das erste Mal in Gesprächen mit den Frauen gehört. Sie begründeten es damit, dass eine 20-Jährige kaum abschätzen kann, was diese Arbeit mit einem macht. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. In der Realität sind es aber genau diese ganz jungen Frauen, die gefragt sind und im Schweizer Sexgewerbe arbeiten.
In Schweden ist die Prostitution verboten. Bestraft werden die Freier, nicht die Prostituierten, wenn sie dennoch erwischt werden. Wäre das ein Modell, das auch für die Schweiz denkbar wäre?
Das nordische Modell ist sicherlich interessant. Man dämmt einerseits Prostitution ein und senkt damit die Ausbeutung und führt andererseits einen Sinneswandel herbei. Nämlich den, dass der Körper keiner Frau käuflich ist. Immer mehr Länder folgen diesem Modell. Aber das nordische Modell kostet etwas, weil den Frauen Ausstiegshilfen, Therapien und Perspektiven angeboten werden müssen. Schlecht umgesetzt kann das schwedische Modell bestimmt auch Schaden anrichten. Aber ich wollte herausfinden, wie die Realität der Mehrheit der Frauen in der Prostitution ist. Das habe ich getan. Lösungen zu suchen, ist die Aufgabe von anderen.
Gab es eine Begegnung, über die du im Buch nicht schreiben wolltest?
Ich traf mich einmal mit einer Frau aus Südamerika in einer Hotellobby. Sie war eine sehr aufgestellte Person. Doch in diesem Hotel sass sie einfach zwei Stunden da und hat mir unter Tränen ihre Geschichte erzählt. Sie hat geweint und geweint. Die Geschichte dieses Lebens, das so ungerecht verlief, das war sehr schmerzhaft mitanzuhören. Ich hatte das Gefühl, sie teilt diese Geschichte mit mir als Mensch, nicht als Journalistin. Darum ist sie nicht im Buch.
Haben Dich die Recherche und die vielen Gespräche mit den Sexarbeiterinnen verändert?
Die Puffmutter Anna, mit der ich viele Gespräche geführt habe, meinte gegen den Schluss auch, «Aline, du hast dich verändert.» Und ja, ich selbst habe das Gefühl, ich habe mich verändert. Ich kann nun mit fester Überzeugung hinstehen und sagen: Das ist die Situation der Prostitution in der Schweiz und die ist nicht in Ordnung. Wir müssen etwas ändern. Wir müssen als Gesellschaft hinschauen, auch wenn es schmerzhaft ist. Wenn wir weiterhin darüber hinwegsehen, zeigen wir damit, dass uns diese Frauen egal sind.
Was hat Dich in diesen zwei Jahren Recherche am meisten beeindruckt?
Ich habe so viele unglaublich tolle und intelligente Frauen kennengelernt. Mit Sara, einer Frau aus Bulgarien, hat sich eine Freundschaft entwickelt. Diese Woche haben wir es endlich geschafft und waren gemeinsam im Landesmuseum. Wir kamen bis kurz vor Schliessung leider nur bis zum 19. Jahrhundert der Schweizer Geschichte. Sara meinte: Wir müssen da nochmals hin.
"Sichere Zonen" wie Bordelle würden dann wohl verschwinden. Ich bin nicht so optimistisch, dass die Prostitution in naher Zukunft dann vollständig verschwinden würde....
Neben den Freiern die sich echt mies den Frauen gegenüber verhalten, gibt es ja auch "anständige" Freier. Und wie sollen diese wissen ob eine Frau das freiwillig macht oder nicht?
Schwierig das ganze für alle. Denn das älteste Gewerbe ist auch das mies behandelste der Welt.
Die nordische Lösung finde ich nicht gut denn damit verdrängt man das Ganze noch mehr in den Hintergrund und in die Kriminalität die man dann noch weniger von aussen wahrnehmen kann.