2021 haben Sie das Rahmenabkommen zum Abschuss freigeben. Nun hat der Bundesrat die neuen Verhandlungsergebnisse mit der EU präsentiert. Wie beurteilen Sie diese?
Thierry Burkart: Der Bundesrat hat erst die Eckwerte bekannt gegeben. Der Text des Abkommens liegt noch nicht vor. Als Anwalt weiss ich, dass man einen Vertrag vollständig kennen muss, bevor man ein Urteil darüber abgibt – auch das Kleingedruckte gelesen haben muss. Klar ist aber: Das neue Abkommen ist besser als der gescheiterte Rahmenvertrag.
Weshalb?
Der Lohnschutz ist gewährleistet und die Schweiz kann die Spesen selbst regeln, wie 16 EU-Staaten auch. Zudem gibt es bei der Zuwanderung eine Schutzklausel. Die Schweiz kann diese unter bestimmten Voraussetzungen selbst steuern. Das bessere Ergebnis zeigt, wie wichtig es war, mutig aufzutreten. Wenn die Schweiz Massnahmen ergreifen will, um die Zuwanderung zu bremsen, wird es Mut brauchen – so, wie es Mut brauchte, vor knapp vier Jahren die Verhandlungen mit der EU zum Rahmenabkommen abzubrechen.
Sie preschten damals in einem Artikel in der Aargauer Zeitung vor.
Ich wurde angegriffen, nachdem ich den Übungsabbruch gefordert hatte. Man sagte mir, wir würden nie etwas Besseres erhalten. Damals wie heute zweifle ich am notwendigen Mut der Schweizer Diplomatie und Politik. Man muss bei aller Notwendigkeit zur Kooperation der EU auch einmal die Stirn bieten.
Wem fehlt denn der Mut?
Bundesrat Jans zum Beispiel hat bereits im vergangenen Sommer propagiert, wird müssten einen neuen Vertrag mit der EU unterzeichnen, obwohl die Verhandlungen noch im Gang waren. Wenn die Schweiz den Eindruck hat, immer alles im vorauseilenden Gehorsam der EU übernehmen zu müssen, dann nützt auch eine Schutzklausel nichts. Fehlt dieser Mut, handelt es sich bei der dynamischen Rechtsübernahme faktisch tatsächlich um eine automatische Rechtsübernahme.
Lohnschutz und Zuwanderung sind das eine, die Frage der Richter das andere. Sie kritisierten 2021 vor allem den drohenden Souveränitätsverlust – wegen der dynamischen Rechtsübernahme und der Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Diese «zwei Elefanten im Raum» sind noch immer da. Weshalb beurteilen Sie das aktuelle Ergebnis dennoch positiv?
Ich sage nicht positiv, sondern besser! Es gibt immer negative Punkte, entscheidend ist das Gesamtergebnis. Wir müssen, sobald der Vertrag als Gesamtes bekannt ist, eine Abwägung aus Sicht der Schweizer Interessen vornehmen. Unklar ist, wie die Ausgleichsmassnahmen der EU aussehen werden. Und was Verhältnismässigkeit tatsächlich heisst, wenn wir als Schweiz Rechtsentwicklungen nicht übernehmen.
Eine Unsicherheit, die bleiben wird.
Deshalb will die FDP, dass wir nach sieben Jahren nochmals über die Abkommen abstimmen, wie dies bei den Bilateralen I der Fall war. Sind die sogenannten Ausgleichsmassnahmen der EU erpresserisch, brechen wir die Übung ab.
Die SVP spricht vom Unterwerfungsvertrag und fremden Richtern.
Der Abstimmungskampf wird sich vor allem um die Personenfreizügigkeit drehen. Hier haben wir bereits einen Souveränitätsverlust erlebt. Mit der Schutzklausel erhalten wir wenigstens die Möglichkeit, die Zuwanderung unter bestimmten Voraussetzungen wieder selber zu steuern. Die EU kann dann allerdings Ausgleichsmassnahmen festlegen, deren Verhältnismässigkeit das Schiedsgericht beurteilt.
Es geht letztlich also doch um institutionelle Fragen?
Sie bleiben die Elefanten im Raum. Die effektive Ausgestaltung der dynamischen Rechtsübernahme und der Schutzklausel werden über die Akzeptanz in unserer Bevölkerung entscheiden.
Vor vier Jahren hat die Schweiz die Verhandlungen abgebrochen, und nun liegt ein besseres Resultat vor. Können wir diese Logik nicht einfach wiederholen: Nochmals Nein sagen – und nochmals mehr herausholen?
So einfach ist es nicht. In Verhandlungen muss man Stärke zeigen, darf aber nicht übermütig werden. Ein Nein wäre riskant, da wir die Gegenmassnahmen der EU nicht kennen: eine Wette auf das Unbekannte. Wir müssen angesichts unserer geografischen Lage inmitten Europas auf der einen Seite und der politischen und wirtschaftlichen Schwäche der EU auf der anderen Seite für die Schweiz einen pragmatischen Weg zwischen Anpassung und Widerstand finden. Denn wir müssen uns unbedingt davor hüten, dem Regulierungswahn der EU zu verfallen, der die Innovation vertreibt und einen Wohlstandsverlust für uns zur Folge hätte.
Die Schweiz hat zwar fertig verhandelt, aber für den Lohnschutz werden noch Lösungen im Inland gesucht. Sind Sie bereit, den Gewerkschaften entgegenzukommen?
Mit der Non-Regression-Klausel hat die Schweiz das Lohnschutzniveau abgesichert. Ich sehe keinen Grund, weshalb die Gewerkschaften noch gegen die neuen Verträge sind. Die Verkürzung der Voranmeldefrist von acht auf vier Tage ist keine reale Verschlechterung. Als die Voranmeldefrist eingeführt wurde, gab es noch keine digitalen Möglichkeiten.
Selbst Staatssekretärin Budliger sagt, es gebe Risiken beim Lohnschutz, die man im Inland kompensieren müsse.
Zur Absicherung des Status quo sind wir gesprächsbereit, doch bei Verschlechterungen für den liberalen Arbeitsmarkt machen wir nicht mit. Eine gesetzlich verordnete Pflicht für Gesamtarbeitsverträge lehnen wir ab. Stärken der Schweiz sind neben dem liberalen Arbeitsmarkt die Sozialpartnerschaft. Mit staatlichen Regulierungen, wie sie die Gewerkschaften fordern, untergraben wir beides.
Ohne Zustimmung der FDP dürfte das Abkommen keine Chance haben. Wann ist klar, ob sie dafür oder dagegen ist?
Wir haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt aus zwölf Leuten, die Hälfte davon ist eher für das neue Abkommen, die Hälfte eher dagegen. Sie werden die Verträge analysieren und Empfehlungen ausarbeiten. Voraussichtlich im Juni 2025 entscheidet dann die Parteibasis über die neuen Verträge.
Und wenn die Parteibasis 50:50 gespalten ist wie das vorbereitende Gremium?
Es gibt sicher einen Entscheid. 50:50? Das glaube ich nicht. Notfalls gebe ich den Stichentscheid. (Lacht.)
Auch eine knappe Mehrheit wäre für die Partei schwierig.
Wir müssen als Partei dazu stehen, dass es unterschiedliche Beurteilungen gibt. Nicht nur die FDP ist uneinheitlich; die Mitte und die SP sind in der Europafrage mindestens so gespalten.
Sie verlagern die Vorbereitungsarbeit an ein Gremium. Drückt sich die Parteileitung vor der Verantwortung?
Nein. Es geht darum, einen geordneten Prozess einzuhalten, der sämtliche Argumente und Positionen respektvoll berücksichtigen. Führen heisst auch, dass möglichst alle mitgenommen werden. Wenn ich als Lokführer zu schnell anfahre, verliere ich zu viele Wagen.
Muss sich die Fraktion im Bundeshaus an den Entscheid der Parteibasis halten?
Die Parlamentarier und Parlamentarierinnen sind ihrem Gewissen verpflichtet. Ich erwarte aber Zurückhaltung von jenen, die unterliegen. Aus liberaler Sicht kann man das Abkommen so oder so beurteilen. Die Verträge sind nicht schwarz oder weiss. Zudem gibt es unterschiedliche Sensibilitäten, gerade auch in der Romandie.
Ihrer Partei droht eine Zerreissprobe, und das kurz vor den Wahlen 2027, wo es für die FDP auch um den 2. Bundesratssitz geht!
Nein, es gibt eben keine Zerreissprobe, wenn man anerkennt, dass es Gründe dafür und dagegen gibt. Ich erwarte, dass das Resultat der Basis deutlicher ausfallen wird, als nun viele vermuten.
Wie zufrieden ist Aussenminister Cassis mit dem Verhandlungsergebnis? Die NZZ schrieb, bei dessen Präsentation habe er dreingeschaut wie ein Weihnachtskarussell-Betreiber bei Regen.
Ich nehme an, dass er zufrieden ist, weil er deutlich mehr erreicht hat, als es beim Rahmenabkommen der Fall war. Jubeln wäre aber falsch. Der Vertrag enthält auch Punkte, die die Schweiz lieber nicht drin hätte.
Die Abstimmung dürfte 2028 stattfinden. Wird Cassis den Vertrag in einer Volksabstimmung noch vertreten?
Das müssen Sie ihn selber fragen.
Ist Ihr Bundesrat der richtige Mann, um das Abkommen vors Volk zu bringen?
Absolut, ja.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Cassis 2028 noch im Amt ist, ist kleiner, als dass Sie dann Aussenminister sind. Dann müssten Sie zusammen mit dem Bundesratskollegen Gerhard Pfister – als Nachfolger von Viola Amherd – in die Volksabstimmung.
(Lacht.) Jedes Bundesratsmitglied steht in der Pflicht, Entscheide des Bundesratsgremiums mit vollem Engagement zu vertreten.
Das ist wohl einfacher, als eine gespaltene FDP zu vertreten.
Es gibt Leute, die sagen: Parteipräsident ist der anspruchsvollere Job als Bundesrat. Ich kann das nicht beurteilen.
Die FDP-Communiqués sind – vermutlich von Jonas Projer – schärfer formuliert als früher.
Sie sind klarer geworden. Das entspricht meinem Auftrag.
In Ihrem jüngsten Communiqué kritisierten Sie, die Gewerkschaften würden mit ihren Forderungen die «Bilateralen in die Luft sprengen». Sind die Bilateralen wohlstandsrelevant?
Das Verhältnis zur EU ist wohlstandsrelevant. Die Frage ist, wie wir es gestalten. Pierre-Yves Maillard und seine Gewerkschaft missbrauchen ihre Veto-Macht, die sie bei den Bilateralen haben, um sachfremde, alte linke Gewerkschaftsforderungen aus der Mottenkiste durchzusetzen und den liberalen Arbeitsmarkt und die Sozialpartnerschaft zu torpedieren. Das ist nicht im Interesse des Landes.
Sie sind selber ja auch ambivalent.
Nicht gegenüber Maillard!
Aber gegenüber den Bilateralen.
Ich habe kein Problem. Maillard schon: Er hat sich derart weit gegen den Rahmenvertrag aus dem Fenster gelehnt, dass er fast nicht mehr zurückkann, ohne das Gesicht zu verlieren.
Der Liberalismus ist in ganz Europa unter Druck, in Deutschland droht Ihre Schwesterpartei FDP aus dem Parlament zu fliegen. Besorgt Sie das?
Ja, selbstverständlich bereitet es mir Sorgen, wenn liberale Kräfte geschwächt werden und extreme Parteien zur Rechten und Linken im Vormarsch sind und die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat ins Unermessliche steigen. Das Negieren und das Verschlafen von Problemen der Asylmigration führen dazu, dass etablierte Parteien implodieren. Wie dramatisch es ist, zeigt, dass Polen mit Donald Tusk – einem eher liberalen Politiker – das Asylrecht sogar ausgesetzt hat, weil das Land mit der illegalen Migration überfordert ist. Die Regierungen gewinnen das Vertrauen nur zurück, wenn sie die Probleme lösen.
Was sagen Sie zu Deutschland?
Deutschland mit seiner Ampel-Regierung ist ein Mahnmal: Es zeigt, wohin unliberale Politik und das Ignorieren illegaler Migration führen. Der wirtschaftliche Zustand Deutschlands ist eine Katastrophe und gefährdet den Wohlstand nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Die FDP hätte viel früher aussteigen oder noch besser gar nicht in die Koalition einsteigen sollen. Sie konnte ihre liberalen Grundsätze praktisch nirgends einbringen.
Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse aus dem Bericht der Parlamentarischen Untersuchungskommission PUK zum Zusammenbruch der Credit Suisse?
Drei Hauptpunkte. Erstens: Gegen Missmanagement, wie es die CS-Chefs vollführten, ist kein Kraut gewachsen. Zweitens: Die Schweiz hatte ein relativ starkes Regulativ bei der Bankenaufsicht, aber die Finma hat die Instrumente zu wenig angewendet und durchgesetzt. Womöglich gibt es bei den Instrumenten auch noch Lücken, insbesondere beim Public Liquidity Backstop sowie beim regulatorischen Filter, der zu viele Ausnahmen zulässt.
Und der dritte Punkt?
Wir hatten Glück, dass Anfang 2023 Karin Keller-Sutter das Finanzdepartement übernommen und das Heft sofort in die Hand genommen hat. Mit ihrem Vorgänger wäre es womöglich zu einem unkontrollierten CS-Zusammenbruch gekommen – und einer Finanzkrise globalen Ausmasses.
Jetzt sagten Sie nichts zum Eigenkapital. Waren die Anforderungen zu wenig hoch?
Es war ein Liquiditätsproblem und kein Kapitalproblem. Aber: Bezüglich Eigenkapital gab es wegen des erwähnten regulatorischen Filters eine Umgehungsmöglichkeit der Anforderungen. Daraus muss man Lehren ziehen.
Die SP sagt: Die Bürgerlichen haben mit ihrer laschen Regulierung die Credit Suisse auf dem Gewissen.
Es gibt keinen einzigen Vorschlag der SP, der verhindert hätte, dass die CS unterging. Und ich bedauere, dass man die Folgerungen der PUK nicht sachlich aufarbeitet, sondern den Bericht schon in der ersten Minute nach dessen Veröffentlichung parteipolitisch missbraucht. (aargauerzeitung.ch)