Herr Hermann, Sie erklären der Schweiz die Politik. Wie ticken Sie politisch?
Michael Hermann: Ich habe ja vor mittlerweile 20 Jahren den Smartspider erfunden, bei welchem nach Beantwortung von diversen Fragen das eigene politische Profil wie bei einem Spinnennetz angezeigt wird. Wenn ich dies selbst ausfülle, wird mir angezeigt, dass mir die Grünliberalen am nächsten stehen. Dennoch bin ich weder Mitglied noch unkritischer Fan dieser Partei und gerade bei Umweltthemen auch nicht sehr dogmatisch.
Will heissen?
Zum Beispiel in der AKW-Frage bin ich emotionslos. Bei der Energie gibt es viele Lebenslügen. Lange gaben wir Schweizer uns der Illusion hin, der Strom komme einfach aus der Steckdose, und ignorierten, dass er zum Beispiel von einem französischen AKW produziert worden ist. Hinter jeder Steckdose findet sich eine unangenehme Wahrheit: Wir brauchen immer mehr Strom, und dessen Produktion hat immer auch schmutzige Seiten. Im besten Fall – bei der Photovoltaik – geht es dabei nur um Landschaftsverschmutzung, aber auch das stösst in der landschaftsverliebten Schweiz auf Widerstand. Die Option AKW sollten wir deshalb zumindest nicht ausschliessen.
Sie gehen nicht von einem grossen Sparwillen der Bevölkerung aus?
Es ist eine romantische Illusion, anzunehmen, dass wir unsere Lebensgewohnheiten ändern. Allerdings hat der Klimawandel da auch seine guten Seiten. Meine Partnerin und ich mussten nach Weihnachten nur nach Andalusien statt bis in die Kanaren fliegen, um bei 20 Grad auf dem Mountainbike Sonne zu tanken. Wobei es mir schon etwas mulmig wurde, zu sehen, wie staubtrocken es dort ist, nachdem der Winterregen wieder ausgeblieben ist. Ehrlicherweise hält mich dies und vieles andere aber dann doch nicht davon ab, wieder dorthin zu fliegen. Deshalb bin ich überzeugt: Die Welt verbessern wir nur mit Technologie. Und um auf die ursprüngliche Frage zurückzukommen: Politisch bin ich näher der Mitte als links und offen für Leute mit verschiedensten Ansichten. 2022 war ich beim Fraktionsessen der SVP, und letztes Jahr war ich bei der Mitte.
Hat Ihnen das niemand übel genommen?
Nein. Warum auch? Die SVP ist ja jetzt wieder bernisch geprägt. Der Zürcher Flügel wurde glatt ausmanövriert.
Das müssen Sie uns erklären.
Die Zürcher haben die Energie und den Willen, Krusten aufzusprengen und alles auf den Kopf zu stellen. Christoph Blocher hat dies für die SVP gemacht. Später war es Martin Bäumle, der die Grünen mit seiner GLP sprengte. Aber auch Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler war mit seinem Landesring der Unabhängigen (LdU) ein Aufmischer. Sie alle sind oder waren Zürcher. Solche Zürcher Persönlichkeiten sprengen Althergebrachtes und mischen den Laden auf. Aber die Berner verstehen besser, wie die politische Machtmechanik funktioniert. So hat sich am Ende Albert Rösti gegen die Zürcher durchgesetzt. Als Bundesrat hat er jetzt schon mehr verändert, als es Christoph Blocher gelungen ist. Interessant war es, beim SVP-Fraktionsessen nach Röstis Wahl zu beobachten, dass bei Blochers Rede viele eingenickt sind und dafür der Berner Dölf Ogi wieder ein sehr gern gesehener Gast war.
Ist das so, weil die Zürcher stärker durch die Wirtschaft, die Berner aber durch die Politik geprägt sind?
Genau, so ist es. Wer in der Politik ein forsches Tempo anschlägt, wie das in der Wirtschaft der Fall ist, läuft Gefahr, aufzulaufen. Christoph Blocher ist letztlich aufgelaufen und als Bundesrat abgewählt worden. Man muss wissen, wie man mit dem System spielen kann. Je weniger Gegenkräfte mobilisiert werden, desto weiter kommt man in der Politik. Die typischen Berner politisieren respektvoller und zugänglicher. Die typischen Zürcher frecher und frischer.
Dafür sind Sie als Berner aus dem Oberaargau ein gutes Beispiel. Sie könnten ja Ihre Arbeit ohne Zugang zu allen Kräften gar nicht machen.
Ja, das ist so. Politik ist so etwas wie mein Forschungsgegenstand, den ich von allen Seiten betrachten muss. Es gehört zur Forscherneugier, verstehen zu wollen, wie die Leute ticken, und sie zu respektieren.
Stossen Sie dabei auf Widerstand?
Eigentlich nicht viel. Ich bin mit meiner Firma aus dem Uni-System ausgebrochen und kann deshalb auf meine Weise arbeiten. Ich publiziere nicht in Fachorganen, bei denen man sich an enge Regeln halten muss. Als das mediale Interesse für meinen Weg grösser wurde, sorgte dies schon auch für Irritation. Aber inzwischen hat sich dies gelegt und ich gehöre sozusagen zum Inventar.
Sie könnten Ihre Arbeit gar nicht machen, wenn Sie nicht Zugang zu allen politischen Parteien hätten.
So ist es. Zumindest würde ich meine Arbeit ohne Offenheit und Neugier nicht gut machen können. Ich muss deshalb in der Lage sein, mich in andere hineinzuversetzen und deren Logik zu verstehen. Könnte ich dies nicht, hätte ich den falschen Beruf.
Sie werden oft als Politologe bezeichnet, haben aber Geografie studiert …
… jene, die Politik studiert haben, nehmen gelegentlich Anstoss daran, dass ich als Politologe bezeichnet werde. Also habe ich einen Kunstbegriff erfunden: Politgeograf oder Wahlgeograf.
Wenn wir gerade beim Thema Wahlen sind: Sie haben sich auf den sozialen Medien kritisch zum Wechsel von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider vom Justiz- ins Innendepartement geäussert.
Das ist nicht so sehr eine Kritik an ihrer Person. Sie war im Justizdepartement in einem Departement, in welchem sie als linke Person sehr angreifbar war. Aus ihrer Sicht ist der Wechsel deshalb logisch. Wenn also Kritik, dann wegen der Art und Weise. Ihre Kolleginnen und Kollegen wussten nicht, dass sie diesen Wechsel will, und dieses Vorgehen ist nicht sehr kollegial.
Also kein Problem wegen des Wechsels ins Innendepartement.
Doch. Aber dies ist vor allem ein Versagen der Bürgerlichen. Wir werden dieses Jahr über eine 13. AHV-Rente und die Entlastung bei den Krankenkassenprämien abstimmen. Als Departements-Chefin muss sie bei diesen Initiativen die Gegenposition vertreten. Aber in ihrem Herzen sieht es ganz anders aus. Sie gehört zum linken Flügel der SP. Das sind ja genau ihre Anliegen.
Sie ist also noch linker als ihr Vorgänger Alain Berset?
Ja, und es ist erstaunlich, dass ausgerechnet die FDP diesen Departementswechsel und überhaupt ihre Wahl in den Bundesrat hingenommen hat.
Das müssen Sie uns erklären.
Viele Bürgerliche sind davon ausgegangen, dass Elisabeth Baume-Schneider eine wenig durchsetzungsstarke Persönlichkeit ist, und wollten sie deshalb lieber im Bundesrat als die Baslerin Eva Herzog. Aber sie haben nicht über den Tag hinausgedacht. Nun hockt Karin Keller-Sutter von der FDP im Finanzdepartement als eiserne Lady auf dem Geld, das Elisabeth Baume-Schneider im EDI als Herzdame am liebsten mit vollen Händen ausgeben würde.
Frau Baume-Schneider kann in der Arena pflichtschuldigst gegen die SP-Initiativen reden. Aber alle sehen ihr an, dass sie eigentlich dafür ist.
Man wird spüren, wo das Herz von Frau Baume-Schneider schlägt. Und weil das zur Stimmungslage im Land passt, ist es möglich, dass die Initiativen der SP und der Gewerkschaften diesmal durchkommen. Für den Gesamtbundesrat wäre dies eine Niederlage. Für Baume-Schneider eher nicht.
Ist Frau Baume-Schneider als Bundesrätin so schwach, wie viele sagen?
Sie war zumindest im Ständerat nur eine Hinterbänklerin. Als Person ist sie impulsiv, kann sich jedoch auch durchsetzen. Sie wird deshalb ihren Weg gehen, in ihrem Departement für ihre sozialen Anliegen einstehen und hat damit das Potenzial, zur Galionsfigur der Linken zu werden.
Die politischen Debatten werden heftiger geführt. Ist das Gefühl, dass die Schweiz politisch auseinanderdriftet, gefühlt oder real?
Es ist zumindest real gefühlt.
Können Sie das erklären?
Sachpolitisch nähern sich die linken und die bürgerlichen Positionen eigentlich eher an. Noch in den 1970er-Jahren gab es einen Kulturkampf mit heftigen Auseinandersetzungen und Krawallen. Während die Linken eine Staatswirtschaft forderten, wollten dann bis hinein in die Nullerjahre viele Bürgerliche alles privatisieren. Inzwischen streiten wir uns um die Erhöhung des Frauen-Rentenalters um ein Jahr und tun so, als gehe es dabei um den Weltuntergang. Auch in der Europafrage haben sich die Positionen angeglichen. Kaum jemand will heute in die EU. Die inhaltlichen Debatten drehen sich heute oft um eher kleine Gegensätze, weil sich die grossen Entwürfe und Gegenentwürfe als unrealistisch erwiesen haben.
Also ist es eine gefühlte Polarisierung. Wo ist sie real?
Mit den sozialen Medien sind Debattierräume geschaffen worden, wo man einander so richtig auf den Grind gibt, auch wenn die Ansichten vielleicht gar nicht so unterschiedlich sind: Es ist ein wenig wie bei Fussballfans. Die sind alle fürs gleiche Spiel und wollen alle besseren Fussball und bringen es trotzdem fertig, sich zu hassen. Es ist ein Stammesdenken, wir gehören zu einem bestimmten Stamm und bringen es fertig, uns gegenseitig zu verachten. Immerhin haben wir mehrere Parteien und nicht nur zwei wie in den USA, wo es nur die Demokraten und die Republikaner gibt.
Auch bei uns gibt es ein Entweder-Oder: zum Beispiel bei Stadt und Land.
Ja, diesen Gegensatz gibt es. Aber auch hier ist die Wirklichkeit eigentlich eine andere: Die meisten Schweizer leben irgendwo zwischen grosser Stadt und dörflichem Land. Nämlich in der Agglo oder in einer Kleinstadt. Dennoch gibt es diese Unterschiede zwischen Stadt und Land, weil in unserer mobilen Gesellschaft Gleichdenkende an die gleichen Orte ziehen und so die Linken und die Rechten am Schluss an unterschiedlichen Orten leben. Die Leute sortieren sich nach ihrer politischen Haltung. Darum tickt die Stadt Bern ganz anders als der Oberaargau.
Müssen wir uns um den Zusammenhalt der Schweiz also trotz allem noch keine Sorgen machen?
Der äussere Zusammenhalt der Schweiz ist überhaupt kein Problem. Es geht um den inneren Zusammenhalt, um das, was uns ausmacht, um unsere Eigenheit. Unsere Stärke ist die Mitverantwortung für das Ganze. Wir hören einander zu, und wir brauchen nicht überall und für alles einengende Regeln. Dieser innere Zusammenhalt ist in Gefahr.
Ist die Schweiz denn wirklich noch ein Sonderfall? Oder ist das nicht bloss noch politische Romantik?
Die Schweiz ist ein echter Sonderfall, allein schon durch die direkte Demokratie. Die gibt es so nur bei uns. Sie bedeutet, dass wir der Bevölkerung zutrauen, sachpolitische Entscheide zu fällen. Andere Demokratien trauen der Bevölkerung lediglich zu, die Leute auszuwählen, die sachpolitische Entscheidungen fällen. Nicht nur das ist einzigartig. Die Angehörigen der Armee dürfen ihre Waffen mitsamt scharfer Munition nach Hause nehmen. Das ist ein ganz besonderer Vertrauensbeweis.
Es gibt noch ein schönes Beispiel: 2012 haben wir über sechs Wochen Ferien für alle abgestimmt. Diese Abstimmung hat international interessiert und ausländische Medienleute waren sich sicher, dass in der Schweiz künftig sechs Wochen Ferien in der Verfassung stehen würden. Es gibt ja viel mehr Arbeitnehmer als Arbeitgeber. Aber wer unsere Politik kennt, wusste, dass diese Initiative keine Chance hatte. Weil hier alle mitdenken und Mitverantwortung tragen.
Wir stimmen bald über eine 13. AHV-Rente für alle ab. Es ist die erste Renteninitiative, die Chancen hat, angenommen zu werden. Weil sich etwas verschiebt. Es entsteht eine Art Gegenbewegung, weil die Wirtschaft den Gesellschaftsvertrag nicht mehr einhält. Viele denken: Wenn wir Milliarden bereitstellen, um Banken zu retten, dann kann man doch wohl auch eine 13. AHV-Rente finanzieren – auch wenn letztlich die Milliarden für die Bankenrettung nicht bezahlt werden mussten.
Banken haben mit der Übernahme der amerikanischen Kultur den Gesellschaftsvertrag am spektakulärsten gebrochen.
So ist es. Die Banken hörten auf, schweizerisch zu sein, und haben unsere Kultur hinter sich gelassen. Aber es geht weiter zurück, bis zum Untergang der Swissair. Sie wurde mit der Hunter-Strategie an die Wand gefahren, und die UBS war nicht bereit, die einstige Schweizer Vorzeigefirma zu retten. Im entscheidenden Moment war UBS-CEO Marcel Ospel telefonisch nicht zu erreichen. Nur wenige Jahre später musste dann aber die UBS vom Staat gerettet werden. Jetzt, da sich die UBS wieder vermehrt schweizerisch auf die konservative Vermögensverwaltung setzt, geschäftet sie wieder erfolgreich.
Die sozialen Medien haben politische Realitäten verändert.
Bei uns viel weniger als im Ausland. Weil wir bei uns in gewissem Sinn schon soziale Medien hatten, bevor es sie gab: Durch die direkte Demokratie. Volksabstimmungen geben allen die Möglichkeit mitzureden – ganz ähnlich wie in den sozialen Medien. Das spielte schon 1970 bei der Überfremdungsinitiative von James Schwarzenbach. Die fiel im Parlament völlig durch; wenn ich mich richtig erinnere, gab es nur eine Stimme dafür. Die von Schwarzenbach selbst. Aber bei der Volksabstimmung gab es 46 Prozent Zustimmung. Das konnte man nicht einfach ignorieren. Vergessen wir nicht die Gemeindeversammlungen. Da wird die Debatte so direkt wie auf X geführt. Ein Grund für die politische Spaltung der USA liegt darin, dass die Politik nicht spürte, was das Volk wollte – bis dann die sozialen Medien kamen.
Es gibt auch eine Gefahr durch die Fusionen der Medien. Die Schweiz war einmal weltweit das Land mit den meisten unabhängigen Zeitungen. Inzwischen wird uns der Kanton Bern aus der Sicht der Blattmacher in Zürich erklärt.
Ja, das Verschwinden unabhängiger Titel schadet dem inneren Zusammenhalt. Wir verlieren die Einzigartigkeit, die Kultur und den Dialekt, die jeder Ort vom anderen unterscheidet. Sogar die Dialekte gleichen sich an.
Kann man dagegen etwas tun?
Nun ja, durch die Medienförderung.
Da landet aber dann auch fast alles wieder in den Töpfen der Grossen.
Das stimmt. Der Strukturwandel in der Medienwelt ist tatsächlich schon passiert. Es ist halt auch eine Realität, dass sich die Räume vermischen. Als ich noch in Huttwil war, sah man einem Huttwiler in Bern sofort an, dass er vom Land kommt.
Und in Huttwil sahen wir jedem an, wenn er vom Wyssachengraben kam.
Ja, die Zalandolisierung ist so weit fortgeschritten, dass wir alle gleich aussehen.
Versucht man eigentlich auch, Sie für etwas einzuspannen?
Ja, allerdings mehr mit der Peitsche als mit Zuckerbrot.
Den Michael Hermann peitschen?
In den sozialen Medien kritisieren und anprangern. Das ist die Peitsche.
Das dürfte Sie nicht aus der Ruhe bringen, und es ist ja auch eine Adelung, kritisiert zu werden.
Mein Ziel ist nicht, neutral zu sein. Sondern fair und unabhängig. Ich halte gerne Finger auf wunde Punkte. Ich bin kein Zahlenhuber und rede gern mit. Bei einer Umfrage im Juni dieses Jahres kam heraus, dass die FDP und die Mitte bei den nationalen Wahlen fast gleichauf sein könnten. Als unabhängiges Institut konnte Sotomo auf eine Entwicklung hinweisen, die zuvor niemand erkannt hat.
Ungefähr so, wie wenn wir schreiben, ein Trainer, der noch in allen Ehren steht, schwebe in Entlassungsgefahr – und dann tatsächlich gefeuert wird.
Ja, aber es muss eine reale Entwicklung dahinterstecken, und der Trainer musste schon wackeln. Sie können ihn nicht selber entlassen.
Würden Sie gern Politiker werden?
Nein, es gibt ja genug, die diese Bühne suchen. Meinen Senf kann ich auch so dazugeben. Wenn ich will, kann ich die Einladung an ein Fraktionsessen einer Partei annehmen, ich muss mich keiner Volksabstimmung stellen, und ich muss nicht populär sein. Ich will frei und unabhängig sein. Lange Sitzungen mag ich nicht. In unserer Firma gibt es deshalb praktisch keine Sitzungen.
Aus dem Monatsmagazin WURZEL
Eigenverantwortung funktioniert nicht, daher heisst „liberal“ heute einfach zu warten bis es ein Verbot braucht.