«Wenn die Prämien nochmals 10 Prozent steigen, könnte sich der Bund dazu durchringen»
Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit geht in der Schweizer Gesundheitspolitik eine Ära zu Ende. Am 31. Dezember tritt Verena Nold als Santésuisse-Direktorin ab. 22 Jahre war Nold für den Verband der Schweizer Krankenversicherer tätig, 13 davon als dessen Direktorin. Kaum jemand hat so viele Reformen mitgemacht wie die Bündnerin. Im Abschiedsinterview sagt sie, wie sie ganz persönlich das Gesundheitswesen gestalten würde.
Wenn Sie für einen Tag die Königin des Schweizer Gesundheitswesens wären und mit dem Finger schnippen könnten: Was würden Sie machen?
Verena Nold: Ich muss vorausschicken, dass ich hier für mich persönlich spreche, nicht für Santésuisse. Wenn ich einen Tag bestimmen könnte, würde ich die kantonale Hoheit für die Gesundheitsversorgung abschaffen und sechs grössere Versorgungsregionen einführen. Ausserdem würde ich einen Versorgungsschlüssel pro Region definieren.
Schauen wir uns so eine Region an: Diese ist soundsoviele Quadratmeter gross, dort leben soundsoviele Millionen Menschen. Und jetzt legen Sie einfach fest, wie viele Spitäler es braucht und wo die stehen?
Ich würde erst einmal dafür sorgen, dass die Spitäler ganz am Schluss der Behandlungskette kommen. Alles soll, wenn möglich, ambulant gemacht werden, möglichst niederschwellig. Ich würde flächendeckend Telemedizin einführen und schauen, dass es breitflächig Apotheken, Haus- und Kinderärzte gibt. Dazu wenige Spezialisten. Ich behaupte: Mit einem funktionierenden ambulanten Versorgungsnetz könnte man 80 Prozent der gesundheitlichen Probleme lösen. Wichtig ist, dass das Angebot den Bedürfnissen der Bevölkerung entspricht. Deshalb würde ich einen schweizweit gültigen Richtwert einführen, der klar zeigt, wie viele Haus- und Kinderärzte, Augenärzte, Kardiologen, Dermatologen etc. auf 1000 Einwohner mit einer entsprechenden Altersstruktur optimal wären.
Und im Spitalbereich?
Auch hier braucht es einen Schlüssel, mit dem festgelegt wird, wie viele und welche Spitalbetten es auf 1000 Einwohner mit entsprechender Altersstruktur braucht. Und dazu eine konsequente Spezialisierung der Spitäler – etwa auf Orthopädie, Geburtshilfe, Kardiologie und so weiter.
Als Alleinherrscherin dürfen Sie das natürlich, aber insbesondere im ambulanten Bereich beschneiden Sie die Wirtschaftsfreiheit. Ärzte könnten nicht mehr überall praktizieren.
Planwirtschaft will ich nicht. Darum ein nationaler Richtwert für optimale Versorgung, den Rest würden die Gesundheitsregionen selbst organisieren. Wenn die städtischen Zentren schon gut versorgt sind, gibt es zum Beispiel im Engadin oder im Münstertal noch Bedarf nach Ärzten. Dort sind die Leute froh um einen zusätzlichen Arzt.
Wie realistisch ist Ihre Vision?
Es gibt bereits Vorstösse in diese Richtung im Parlament. Und ich denke, wenn die Prämien nochmals gegen zehn Prozent steigen werden, könnte sich der Bund durchringen, solche Gesundheitsregionen einzuführen.
Wenn sechs Gesundheitsregionen für die Schweiz reichen: Wie viele Krankenkassen brauchen wir? Über 30 sind auch ziemlich viele.
Die Konzentration hat längst begonnen. 1996 gab es in der Grundversicherung noch 145 Krankenkassen. Heute teilen sich zehn Anbieter 95 Prozent des Marktes auf. Hinzu kommen noch etwa 20 kleine selbstständige Kassen, und jedes Jahr verschwinden leider zwei davon. In 20 Jahren werden wir vielleicht noch zehn oder 15 Kassen haben.
Als Sie bei Santésuisse angefangen haben, gab es das Thema Kosten nicht. Was ist da in diesen 22 Jahren passiert?
Ursprung der Entwicklung war 1996 die Einführung des neuen Krankenversicherungsgesetzes. Damit wurde die Krankenversicherung obligatorisch und gleichzeitig öffnete man den gesamten Leistungskatalog für alle. Zuvor waren etwa die Spitaltage begrenzt, die Pflegeleistungen ausgenommen. Das ist jetzt alles über die Grundversicherung abgedeckt. Hinzu kommt der medizinische Fortschritt. All das hat seinen Preis und führt am Schluss zu steigenden Prämien. Auch wenn damals gesagt wurde, es würde günstiger. Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten.
Die Folge davon ist, dass wir seit 15 Jahren eine Reform nach der anderen haben, um die Kosten in den Griff zu bekommen. Welche dieser Reformen hat wirklich etwas gebracht?
Aus meiner Sicht die Reform der Pflegefinanzierung 2011. Dort hat man die Pflegebeiträge, die die obligatorische Krankenpflegeversicherung zahlen muss, limitiert. Das hat dämpfend gewirkt.
Aber nur auf die Prämien, den Rest zahlen jetzt Kantone und Gemeinden und damit der Steuerzahler. An den Kosten hat sich nichts geändert.
Stimmt, so gesehen war es eher eine Prämien-Schutzmassnahme. Kostendämpfend war zumindest zu Beginn die Einführung von Fallpauschalen in den Spitälern. Das hat unter anderem dazu geführt, dass die Patienten weniger lange im Spital bleiben. Und dazu, dass man die Spitäler besser vergleichen kann. Etwas anderes ist nicht eingetreten: Ursprünglich ging man davon aus, dass die Anzahl Spitäler mit der Einführung der Fallpauschalen sinkt. Das ist nicht passiert und heute immer noch eines der grossen Probleme.
Was war die nutzloseste Reform in all diesen Jahren?
Ein funktionierendes elektronisches Patientendossier wäre für das Gesundheitswesen eminent wichtig. In der ersten Version war es aber nur für Spitäler und Pflegeheime obligatorisch. Wenn Ärzte, Apotheken und Patienten nicht mitmachen müssen, bringt es nichts. Zudem war es sehr kompliziert organisiert. So wurden die Kantone mit der Umsetzung beauftragt – mit dem Effekt, dass man x-mal das Rad neu erfunden hat. Das ist schade, denn es gäbe ein riesiges Potenzial für Qualitätssicherung und Kostendämpfung.
Wenn Sie auf die Zeit zurückschauen: Was war Ihr grösster Erfolg?
Die härteste Nuss war sicher, den neuen Arzttarif weiterzuentwickeln. Es hat 15 Jahre gedauert, aber nun treten die ambulanten Pauschalen und der Tardoc 2026 in Kraft.
Die Pauschalen sind hochumstritten.
Die Einführung des neuen Arzttarifs muss kostenneutral erfolgen – so will es der Bundesrat. Damit findet eine Umverteilung statt: Einige Leistungen werden in Zukunft besser, andere weniger gut vergütet. Da liegt es auf der Hand, dass nicht alle glücklich sind. Mein Ziel war es immer, mit dem neuen Arzttarif die Kosten zu dämpfen. Das geht am besten, wenn man nicht mehr jeden Handgriff einzeln abrechnet, sondern Pauschalen einführt. Das hat sich in den Spitälern bewährt.
Ein nächster Kostenbrocken steht noch an: die Umsetzung der Pflegeinitiative. Gemäss Berechnungen des Bundes könnte dies die Prämien nochmals um vier Prozent steigen lassen. Was soll man tun?
Die Pflegeinitiative muss umgesetzt werden. Nur schon, weil wir in Zukunft noch weniger Pflegefachpersonen haben werden. Umso wichtiger ist es, diese am richtigen Ort einzusetzen. Die Überforderung, die viele Pflegende zu Recht geltend machen, hat damit zu tun, dass die personellen Ressourcen nicht richtig eingesetzt werden. Da sind wir wieder bei der optimalen Versorgung: Wir brauchen mehr ambulante Behandlungen und weniger Spitäler, die dafür hoch spezialisiert und sehr gut ausgelastet sind. Wenn man sich besser organisiert, haben am Schluss alle Pflegenden bessere Arbeitsbedingungen und weniger Nachtschichten.
Wir sprechen bis jetzt über Spitäler und Ärzte. Man könnte noch Pharmafirmen dazunehmen, Apotheken und Kantone. Welcher von diesen Akteuren, mit denen Sie verhandelt haben, war am schwierigsten?
Das hing vom Thema ab. Sobald es ums Geld geht, wird es schwierig. Intensiv waren oftmals Verhandlungen mit Ärzten. Im Gegensatz zu Spitaldirektoren und Pharma-Managern geht es bei ihnen um ihr persönliches Einkommen. Das tut weh, das verstehe ich.
Was, würden Sie sagen, ist für den Job, den Sie 13 Jahre gemacht haben, das Wichtigste? Was muss man können?
Es braucht eine hohe Frustrationstoleranz, Geduld und Durchhaltevermögen. Es geht nur langsam voran, manchmal geht es einen Schritt vorwärts und zwei wieder zurück. Dann ist es wichtig, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.
Wie oft sind Sie abends nach Hause gekommen oder aus einer Sitzung gegangen und haben erstmal einen kurzen Frustschrei abgelassen?
Vermutlich etwa einmal im Monat. Es gab schon sehr schwierige Verhandlungen. Wenn es um viel geht, wird mit harten Bandagen gekämpft.
Einfach hart in der Sache oder auch mit persönlichen Angriffen?
Es werden alle Register gezogen. Ich kann mich an eine Tarifverhandlung erinnern, im Bahnhofbuffet Olten, es war der Tag vor Auffahrt. Ich verhandelte einen Tag lang und brauchte dann nochmal einen Tag, um wieder runterzukommen. Mein Mann war ab und zu Blitzableiter.
Hilft es in Verhandlungen, wenn man eine Sympathie fürs Gegenüber hat?
Das spielt schon eine Rolle. Vor allem merkt man irgendwann, wem man trauen kann und wem nicht. Natürlich spielt jeder seine Rolle, vertritt in Verhandlungen die eigenen Interessen. Und doch gibt es überall Leute, die etwas bewegen wollen. Hat man diese gefunden, gelingt manchmal ein Meilenstein. So war es beim Durchbruch zum neuen Arzttarif.
Was machten Sie zum Ausgleich?
Ich ging viel in die Natur. Laufen, wandern, im Winter Ski fahren, den Kopf lüften. Gemeinsam mit meinem Mann habe ich zudem einen Sohn aufgezogen. Wenn ich am Abend um acht nach Hause kam, half ich erstmal bei den Hausaufgaben. Am Wochenende hiess es Kindergeburtstag und Kuchenbacken. Im Nachhinein war das ein Glück, so konnte ich die Arbeit gar nicht nach Hause nehmen.
Am 31. Dezember verabschieden Sie sich von Santésuisse. Was machen Sie dann?
Erst einmal sehr lange Skiferien in Arosa. Ein bisschen den Kopf lüften. Und dann schaue ich, worauf ich Lust habe. (aargauerzeitung.ch)
