Daniel Albrecht: «Ich musste mein Leben nochmals wie ein Kind lernen»
Sie halten nun schon seit einiger Zeit Vorträge, in denen sie über Ihre Karriere erzählen. Dafür nutzen Sie Videos Ihrer Skikarriere. Was lösen die Bilder von damals bei Ihnen aus?
Daniel Albrecht: Wenn ich die Bilder sehe und die Musik höre, die ich damals am Start hörte, bin ich sofort wieder in dieser Emotion. Es ist ein unglaublich positives Gefühl. Gleichzeitig kommt aber auch der Moment, in dem die Musik wechselt, bei dem der Sturz kommt. Dann kippt es in eine völlig andere Welt. Und das ist dann der Moment, wo du merkst, da war es einfach zu Ende.
Dieser Sturz hat Ihr Leben verändert. Können Sie sich an den Moment erinnern?
Nein. Ich habe überhaupt keine Erinnerungen. Alles, was ich von damals weiss, kenne ich nur aus den Videos.
Sie waren mehrere Wochen im Koma. Wie war es danach?
Als ich im Spital zum ersten Mal meinen Namen sagen sollte, wusste ich ihn nicht. Ich musste mir die Frage zuerst selbst stellen, damit ich überhaupt im Hirn danach suchen konnte. Ich war wie ein kleines Kind.
Wie war dieses «erneute Kindsein»?
Einerseits sehr brutal, aber andererseits auch sehr wertvoll. Ich hatte keine Emotion, reagierte nur auf andere Menschen. Wenn jemand fröhlich war, dann wurde ich auch fröhlich. Wenn jemand gestresst war, wurde ich auch gestresst.
Das müssen Sie erklären.
Du hast keinen Zugang zu den 90 Prozent Unterbewusstsein und merkst erst dann, wie wenig eigentlich selbst steuerbar ist. Dieser zweite Blick aufs Leben, auf das Lernen, auf die Menschen, der begleitet mich bis heute.
Was mussten Sie vor allem neu lernen?
Vor allem sprachlich musste ich wieder viele Verbindungen neu herstellen. Ich denke, weil ich vor dem Unfall schon nicht sehr stark in sprachlichen Belangen war. So sah ich zum Beispiel ein Bild von einem Elefanten vor mir, aber ich konnte nicht sagen, ob es ein Elefant oder eine Giraffe ist. Es war peinlich, aber das Gehirn braucht Zeit. Das hat mich später auch geprägt: Die Theorie kann dir jemand erklären, aber wie sie in dir funktioniert, musst du selbst herausfinden.
Nur knapp zwei Jahre nach Ihrem Unfall standen Sie wieder am Start. Wie war das möglich?
Weil ich wollte. Ich war wieder auf dem Schnee, bin zwei, drei Kurven gefahren und mir ist schlecht geworden, weil sich alles gedreht hat. Aber das Gefühl von Ski, Schnee und Bergen war herrlich. Ich sagte sofort: «Beim nächsten Weltcup bin ich dabei.» Für die Trainer und mein Umfeld war das verrückt. Für mich war es normal. Ich brauche unrealistische Ziele, damit ich alles gebe.
In Beaver Creek fuhren Sie gleich auf den 21 Platz. Ein unglaubliches Comeback.
Für mich war dieser 21. Platz mehr wert als ein Weltmeistertitel. Ich ging einen Weg, den noch niemand zuvor gegangen war. Aber nach diesem ersten Erfolg begann der Kampf. Ich wollte weiter, wollte schnell zurück nach oben. Aber mein Umfeld hatte Angst. Die Ärzte sagten nein, ich sagte ja. Ich brauche Freiheit, Entscheidungsmacht und ein Umfeld, das mich versteht.
Woran ist es schlussendlich gescheitert?
Am System. Der Schweizer Skiverband ist stark strukturiert. Alles ist richtig, alles ist korrekt, alles ist sicher. Aber es passt nicht zu jedem Menschen.
Wie meinen Sie das?
Ich bin einer, der seinen eigenen Weg gehen will. Wie es später Marcel Hirscher oder Lara Gut-Behrami gemacht haben. Ich wollte wieder auf Weltcupniveau kommen, aber es war ständig ein Kampf. Irgendwann merkte ich: Ich verbrauche zu viel Energie, um existieren zu können in diesem System. Und ich hatte kein Bock mehr zu kämpfen.
Sie kritisieren, dass unser System wenig Raum für Neuanfänge lässt.
Wir sind so stark auf Ausbildung und Lebenslauf fixiert, dass ein Richtungswechsel fast wie ein Fehler wirkt. Du bist Koch, also musst du Koch bleiben. Aber Menschen ändern sich. Vielleicht brennt man mit 30 plötzlich für etwas anderes. Aber ein kompletter Neustart passt nicht in die Schubladen. Ich glaube, wir müssten flexibler werden und uns fragen: Wo passt der Mensch hin? Jetzt, in dieser Phase.
Sie haben dann Ihr eigenes Team aufgebaut. Wieso funktionierte das nicht?
Wenn du in der Schweiz Weltcup fahren willst, musst du Teil des Systems sein. Alleine geht es nicht. Und wenn du zurückmusst in etwas, was dir nicht passt, dann verlierst du dich. Ich wollte gewinnen, nicht einfach zurück ins Leben. Das Ziel des Verbandes, mir ein gutes, gesundes Leben zu geben, haben sie erfüllt. Mein Ziel, wieder der Schnellste zu sein, war damit aber nicht kompatibel.
Im Abschlusstraining zur Abfahrt von Kitzbühel im Januar 2009 stürzte er nach dem Zielsprung schwer und erlitt ein Schädel-Hirn-Trauma. Der 42-Jährige lebt heute getrennt von seiner Frau im Wallis und hat eine achtjährige Tochter. Er ist der Gründer der Skibekleidungsmarke Albright, verkaufte diese aber 2018 an Ochsner Sport. Beruflich hält er regelmässig Vorträge, ist als Berater für Firmen tätig und baute ein Mehrfamilienhaus nach der Mondhaus-Philosophie – Dabei wird das benutzte Holz bei abnehmendem Mond gefällt und soll eine besonders hohe Widerstandsfähigkeit und Langlebigkeit aufweisen.
Heute leben Sie ein ganz anderes Leben. Sie sind Vater, getrennt und pendeln zwischen dem Wallis und dem Aargau.
Meine Frau und ich haben uns entschieden, unsere Tochter zuhause zu unterrichten. Das ist im Aargau viel einfacher als im Wallis. Dort müsste man Lehrer sein.
Warum haben Sie sich für Homeschooling entschieden?
Weil jedes Kind anders ist. Ich wollte meine Tochter nicht begradigen. Ich wollte, dass sie sagt, was sie will. Sie ist wie ich: Wenn man ihr sagt, wie sie etwas machen soll, ist die Energie weg. In der Schule passiert oft genau das: Kinder lernen irgendwann, die Antworten zu geben, die erwartet werden, nicht ihre eigenen.
Wie läuft das bei Ihnen so ab?
Unter der Woche ist meine Tochter bei ihrer Mutter im Aargau und am Wochenende ist sie bei mir im Wallis. Wir ergänzen uns gut. Die Schule ist nicht ein Ort, wo man Kinder vollstopfen soll, sondern ein Ort, wo sie entdecken sollen, wer sie sind. Deshalb verbinde ich meine Vorträge auch mit Workshops, in denen auf die eigene Mentalität fokussiert wird.
Sie sagen also, Kinder sollen ausprobieren dürfen und auch Risiken eingehen?
Ja, genau. Wenn ein Kind mit dem Velo den Hang hinunterfahren will, kann ich sagen: «Das ist gefährlich, tu es nicht.» Dann fährt es nicht, aber ich habe etwas kaputt gemacht. Oder aber ich begleite es: Helm an, erklären, was passiert, wenn es fällt. Und dann lernt es. Richtig gefährlich wird es erst, wenn ein 15-Jähriger ohne Erfahrung denselben Hang hinunterfährt.
Ist das Ihr neues Lebensprojekt?
Nicht direkt. Ich habe noch einige Dinge geplant in den nächsten Monaten, aber nach dem Unfall habe ich gemerkt, dass ich nur funktionieren kann, wenn ich das mache, was ich bin.
Was treibt Sie heute an?
Ich bin Visionär, Träumer. Ich brauche Ziele, die eigentlich zu gross und zu unrealistisch sind. Das war im Sport so, das ist auch heute so. Und doch muss ich immer wieder zurück in die Realität wegen meiner Tochter, dem Haus, dem Leben. Aber ich bin überzeugt: Wenn man lebt, was man wirklich ist, kommt vieles von selber.
Sie haben erlebt, wie brutal ein Sturz enden kann. Wie blicken Sie auf den Umgang mit Hirnerschütterungen im Spitzensport?
Da gibt es Dinge, die mir bis heute wehtun. Ich habe erlebt, wie Athletinnen und Athleten nach einer Hirnerschütterung einfach nach Hause geschickt wurden. Alleine im Auto. Das geht natürlich nicht und ist meiner Meinung nach sehr fahrlässig. Ich hätte mir gewünscht, dass die Erfahrungen aus meinem Unfall konsequenter genutzt werden.
Verfolgen Sie die Skirennen heute noch?
Ja, aber ich muss aufpassen. Wenn ich zu viel schaue, dann bin ich wieder voll drin und fange an, alles zu analysieren. (lacht) Bei gewissen Athletinnen und Athleten wie Lara Gut-Behrami oder Marco Odermatt interessiert mich vor allem: Wie denken sie? Wie entscheiden sie? Sie hatten den Mut, ihren Weg zu gehen. Das fasziniert mich mehr als die Resultate.
Sie haben auch mit Lara Gut-Behrami zusammengearbeitet.
Genau, wir haben eine Zeit lang zusammengearbeitet und für mich war sie die einfachste Athletin, die es gibt. Nicht, weil alles easy war, sondern weil sie wusste, was sie braucht. Als Trainer musst du ihr nicht sagen, was sie tun soll. Du musst zuhören und ihr das Umfeld geben, in dem sie funktionieren kann. Das ist für mich das Idealbild: Der Athlet entscheidet, der Trainer unterstützt. (aargauerzeitung.ch)
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