«Ich schoss dem Russen in den Kopf»: Schweizer Ukraine-Kämpfer Neidhart vor Militärgericht
Jona Neidhart sitzt an einem Pult vor dem Untersuchungsrichter der Schweizer Militärjustiz. Zwei Kameras filmen ihn, von vorne und von hinten. Auf seinem T-Shirt steht in Grossbuchstaben: UKRAINE. Darunter auf Ukrainisch: «Den Mutigen gehört die Welt.» Der Untersuchungsrichter sitzt dem Beschuldigten in Tarnanzug und Kampfstiefeln gegenüber.
Die Militärjustiz ist für die Verfolgung aller Schweizer zuständig, die fremden Militärdienst geleistet haben – unabhängig davon, ob die Beschuldigten in der Schweizer Armee sind oder nicht. Der 38-jährige Neidhart leistete einst Militärdienst bei den Grenadieren in Isone, musste diesen aber wegen einer Fussverletzung abbrechen.
Neidhart gesteht, ein Wiederholungstäter zu sein. Er stand zweimal in der Ukraine im Einsatz: von März 2022 bis Dezember 2023 und von Januar bis Juni 2025. Er nennt in der Einvernahme folgende Gründe. Die Ukraine wurde von Russland unschuldig angegriffen und bat die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Neidhart hat zudem familiäre Wurzeln mütterlicherseits in der Ukraine und ist Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Mormonen). Er fühlte sich zum Helfen verpflichtet.
Jetzt kämpft er auch in der Schweiz – für eine andere Neutralitätspolitik. Wenn ein Land völkerrechtswidrig angegriffen wird, dürfe die Schweiz eigene Landsleute nicht bestrafen, die das moralisch Richtige täten.
Neidhart machte seinen Einsatz in der Ukraine selbst publik: Er traf den Kriegsreporter des «Blick» in der Ukraine und liess sich von ihm auch auf dem Gang zum Polizeiposten in Bern begleiten, wo er sich stellte.
Jona Neidhart legt die Beweise auf den Tisch
Im September 2025 hat ihn die Militärjustiz ausführlich befragt. Das Wort- und Videoprotokoll liegt CH Media vor. Neidhart legt dem Untersuchungsrichter eine Mappe mit Tarnmuster auf den Tisch und präsentiert die Beweise: seine Verträge mit der ukrainischen Armee und seine Tagebücher.
In der vierstündigen Befragung schildert er, wie er mit seinem Einsatz in der Ukraine mutmasslich gegen das Militärstrafgesetz verstossen hat und an der Front in Konflikt mit dem Kriegsvölkerrecht kam. Es geht um ein Feuergefecht im Mai 2025 im Bezirk Charkiw, etwa 50 Kilometer östlich der Kleinstadt Isjum. Der folgende Auszug aus dem Protokoll ist eine verdichtete Zusammenfassung der brisantesten Aussagen.
Jona Neidharts Fronteinsatz 2025:
Untersuchungsrichter: Wie muss ich mir Ihren Einsatz an der Front vorstellen?
Beschuldigter: Der Ukrainekrieg ist zum grössten Teil ein Stellungskrieg, ein bisschen wie im Ersten Weltkrieg. Einfach mit dem Unterschied, dass die Technologie moderner geworden ist. Normalerweise schläft und isst man in Bunkern – oder eher Erdhöhlen, die mit Baumstämmen und Sandsäcken verstärkt wurden. Ausserhalb des Bunkers gibt es Beobachtungsposten, wo man die feindliche Seite mit Ferngläsern, Nachtsichtgeräten oder Wärmebildkameras beobachtet.
Untersuchungsrichter: Haben Sie in diesen Fronteinsätzen auch offensiv gewirkt?
Beschuldigter: Die meisten Manöver waren defensiv. Bei einem Angriff kamen aber zwei Russen bis auf zehn Meter an unsere Stellung heran. Sie warfen Handgranaten und schossen mit dem Sturmgewehr in unsere Richtung. Zwei meiner Kameraden, ein Ukrainer und ein Australier, machten einen Gegenstoss. Sie gingen aus dem Bunker und warfen Handgranaten um die Ecke. Ein Russe starb, der andere floh verletzt in den Wald. Wir erhielten den Auftrag, diesen zu jagen. Wir fanden zuerst seinen Helm, Brustpanzer und sein Gewehr; später ihn selbst unter einem Busch mit blutverschmierter Hose. Wir wussten nicht, ob er tot war oder nicht. Mein Kamerad, der Australier, leerte sein Magazin mit 30 Schüssen. Nach den ersten Treffern sprang der Russe zuckend auf und blieb liegen. Dann schoss ich ihm in den Kopf, um sicherzustellen, dass er tot ist. Das war der einzige Schuss in meiner Kriegszeit in der Ukraine, den ich auf einen sichtbaren Russen abfeuerte.
Untersuchungsrichter: Wer hat den Ausschlag für diesen Schuss gegeben?
Beschuldigter: Mein Vorgesetzter hat uns angewiesen, sicherzustellen, dass er tot ist. Ich habe mich dann spontan zu diesem Kopfschuss entschieden. Es kam immer wieder vor, dass sich Russen tot stellten, um dann im letzten Moment eine Granate zu werfen.
Untersuchungsrichter: Was ging Ihnen in diesem Moment durch den Kopf?
Beschuldigter: Der Russe tat mir leid. Als wir ihn durchsuchten, sah ich seinen Ehering. Er war zwischen 30 und 40 Jahre alt und hatte wahrscheinlich Kinder. Es tat mir weh, dass es nun eine russische Witwe und womöglich Waisenkinder gab. In diesem Moment sah ich, wie dieser Genozid von Russland nicht nur die Ukraine, sondern auch das russische Volk trifft.
Anhörung von Jona Neidhart
Untersuchungsrichter: Herr Neidhart, kennen Sie die Regeln des Kriegsvölkerrechts, also die Genfer Konvention?
Beschuldigter: Ja, wir hatten Trainings dazu. In diesem Krieg ist es sehr schwierig, die Genfer Konvention eins zu eins umzusetzen. Nicht, weil die Ukrainer dies nicht wollen, sondern vor allem, weil die Russen sich an nichts halten. Das ist, wie wenn man gegen eine Mannschaft Fussball spielt, die sich an keine Regeln hält, und man versucht trotzdem, sich an die Regeln zu halten. Dann wird die Mannschaft im Vorteil sein, die sich an keine Regeln hält.
Untersuchungsrichter: Dieser Soldat war offensichtlich verwundet oder verletzt und hatte seine Schutzrüstung abgelegt. Man darf Gegner, die ausser Gefecht sind, nicht angreifen – auch nicht, wenn man den Befehl dazu erhält. Wie äussern Sie sich dazu?
Beschuldigter: Theorie und Praxis sind zwei verschiedene Dinge. Vieles, was wir in unseren Theoriebüchern und Klassenzimmern besprechen, kann man in diesem Krieg nicht umsetzen. Ich persönlich habe kein schlechtes Gewissen.
Untersuchungsrichter: Es besteht der Verdacht, dass Sie gegen das Kriegsvölkerrecht verstossen haben. Dieses gilt auf der ganzen Welt, unabhängig davon, ob sich die andere Seite daranhält. Diesen Sachverhalt werde ich der Bundesanwaltschaft unterbreiten. Sie entscheidet dann, ob ein genügender Verdacht besteht, um ein Verfahren zu eröffnen. Haben Sie Fragen oder Bemerkungen dazu?
Beschuldigter: Nein, ich habe kein Problem damit. Ich bin authentisch und ehrlich. Ich berichte so, wie ich die Dinge erlebt habe. Ich habe keine Beweise dafür. Ich habe nur meine Worte.
Neidhart schildert einen zweiten Vorfall, der aus kriegsvölkerrechtlicher Sicht heikel ist. Im Juni 2023 sollte er mit fünf internationalen Soldaten vier russische Gefangene von der Front wegbringen. Laut Genfer Konvention hätten diese ihre Schutzausrüstung behalten dürfen. Doch in der Vergangenheit hatten russische Gefangene Helm und Brustpanzer benutzt, um ihre Bewacher anzugreifen. Deshalb nahmen Neidhart und seine Kollegen ihnen die Ausrüstung ab.
Einer der vier Gefangenen war schwer verletzt. Nach den Regeln hätten die internationalen Soldaten den Verletzten tragen müssen, doch mit nur sechs Mann hätten sie die anderen Gefangenen nicht bewachen können. Also mussten die Russen ihren verletzten Kollegen tragen.
Auf dem Weg beschoss die russische Armee sie mit Mörsergranaten. Ein Gefangener starb, zwei wurden leicht verletzt. Neidhart und seine Kollegen liessen den Schwerverletzten zurück und brachten die Leichtverletzten und sich in Sicherheit.
«Nach der Genfer Konvention war das nicht sauber», gibt Neidhart zu Protokoll. «Aber in dieser Situation hatte unser Überleben Vorrang.» Er habe rund 60 russische Gefangene gesehen. Diese seien korrekt und freundlich behandelt worden.
Die Einvernahme fand im September 2025 statt. Die Bundesanwaltschaft hat sich noch nicht mit dem Fall befasst, wie die Strafverfolgungsbehörde auf Anfrage mitteilt. Falls sie das Verfahren nicht übernimmt, wird es die Militärjustiz weiterführen.
Die lange Sinnsuche eines Hochbegabten
Jona Neidhart hat mit dem Kampf in der Ukraine und dem juristischen Kampf in der Schweiz seine Berufung gefunden. Er ist hochbegabt, doch bis vor Kurzem konnte er seine Begabung nicht entfalten. In der Schule hatte er Probleme, weil er anders war. Er fand nie richtig Anschluss.
Nach der Matura verbrachte er drei Jahre als Missionar und Lehrer seiner Glaubensgemeinschaft im Ausland. Später studierte er Literatur an der Universität Bern. Doch nach dem Bachelor hatte er «die Nase voll» von der Uni und wollte Polizist werden. Er scheiterte am Assessment – man hielt ihn für zu wenig durchsetzungsfähig. Schliesslich begann er ein Masterstudium mit dem Ziel, Sekundarlehrer zu werden.
Dann brach der Krieg in der Ukraine aus. So kam es zu einer paradoxen Konstellation: In der Schweiz fiel er bei der Polizei durch – in der Ukraine fand er einen Platz als Soldat.
Der 38-Jährige ist ein Mann, der Mühe in starren Systemen hat und seine Stärke in Extremsituationen findet. Erst vor einem Jahr realisierte er, wie er mit seiner Hochbegabung umgehen muss und wie er seine ungewöhnliche Denkweise nutzen kann.
Jona Neidhart hofft auf eine Einstellung des Verfahrens. Aber er ist auch bereit, in der Schweiz ins Gefängnis zu gehen – auf seiner Mission als Aktivist.
