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«Dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen»: Oberster Krisenmanager im Interview

Kurt Rohrbach im Interview
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«Dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen»: Oberster Krisenmanager gibt noch keine Entwarnung

In seinem ersten Interview spricht Kurt Rohrbach über die Folgen bei einer Stromabstellung und empfiehlt allen, einen Notvorrat zu halten.
14.01.2023, 10:43
Florence Vuichard und Pascal Michel / ch media
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Eigentlich war er schon im Ruhestand, wollte sich mehr Zeit nehmen für seine Hobbys, insbesondere für seine Hundezucht. Doch nun steht der frühere BKW-Chef Kurt Rohrbach wieder im Kriseneinsatz: Seit dem 1. Dezember ist er bis Ende Juni als Delegierter verantwortlich für die wirtschaftliche Landesversorgung. Er ist eingesprungen, weil Wirtschaftsminister Guy Parmelin im September auf ihn zugegangen ist und «auch an sein Verantwortungsgefühl» appelliert hat, wie er sagt. «Ich war während meiner gesamten Karriere in der Stromversorgung tätig. Nicht selbstlos, wir haben Geld verdient. Aber in meiner DNA war stets die Versorgungssicherheit wichtig.»

Als oberster Krisenmanager des Landes waren Sie wohl der Einzige, der sich über die grünen Weihnachtstage gefreut hat.
Kurt Rohrbach: Tatsächlich hat die Freude überwogen. Wir brauchen bei so lauen Temperaturen weniger Strom und Gas.​

Kommt die Schweiz nun problemlos durch den Winter?
Die Wahrscheinlichkeit, dass wir in eine Strom- oder Gasmangellage kommen, ist kleiner geworden. Die Lage ist zwar derzeit eher positiv, aber wir dürfen uns jetzt nicht zurücklehnen. Wir müssen vorbereitet bleiben. Auf eine Mangellage kann man nicht einfach ein bisschen vorbereitet sein, entweder man ist vorbereitet oder nicht. Hier gibt es nur schwarz oder weiss.

Was müsste passieren, damit die gefürchtete Mangellage doch noch eintritt?
Ohne in Panikmache zu verfallen: Es gibt durchaus Faktoren, die man im Auge behalten muss. Sinken etwa die Temperaturen, fällt gleichzeitig ein Teil des französischen AKW-Parks aus und muss auch noch ein AKW in der Schweiz vom Netz genommen werden – dann dürfte es eng werden. Auch Cyberangriffe könnten verheerende Folgen haben. Hinzu kommt das Problem der Netzstabilität. Wir haben nun mal kein komfortabel ausgebautes Stromnetz. Das vergisst man gerne.

Was heisst nicht komfortabel ausgebaut?
Die entscheidende Frage lautet: Ist das Netz noch stabil, wenn eine wichtige Komponente ausfällt? Das ist in der Schweiz nicht immer der Fall, es gibt Stunden im Jahr, in denen wir diese Stabilität nicht haben. Da droht zwar noch kein schweizweiter Blackout, aber wir hätten schon ein gröberes Problem.

Sollte die Schweiz mehr in ihr Stromnetz investieren?
Ja, selbstverständlich. Aber das wissen wir schon lange.

Was ist aktuell das grössere Risiko: eine Strom- oder eine Gasmangellage?
Was heisst grösseres Risiko? Beim Gas haben wir keine eigenen Speicher, die Vorlaufzeit bei einer Mangellage ist wahrscheinlich eher kurz. Hingegen trifft es nicht alle. Beim Strom hingegen haben wir wohl mehr Vorlaufzeit, können uns besser vorbereiten, aber letztlich trifft es dann im schlimmsten Fall alle – und so ziemlich alles.​

Kurt Rohrbach: Zur Person
Der Elektroingenieur ging nach seinem Studium an der ETH Zürich zum Berner Stromkonzern BKW, wo er Karriere machte und bis zum Chef und später zum Vizepräsidenten aufstieg. 2016 trat er zurück, 2021 gab er auch das Präsidium des bernischen Handels- und Industrievereins (HIV) ab. Rohrbach wohnt mit seiner Frau, einer Tierärztin, in Büren an der Aare. Der Bundesrat ernannte ihn per 1. Dezember ad interim zum Delegierten für wirtschaftliche Landesversorgung. Bei dieser Aufgabe wird er administrativ vom Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) mit seinen aktuell 48 Mitarbeitenden unterstützt. Am 1. Juli soll dann sein Nachfolger Hans Häfliger den Job übernehmen, sodass Rohrbach zurück in den Ruhestand kann. (fv)
Kurt Rohrbach im Interview
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Etwa auch die Bezahlterminals in den Supermärkten ...
Hier sind es nicht in erster Linie die Terminals oder die einzelnen Bancomaten das Problem. Es geht vielmehr um die Rechenzentren, die im Notfall weiterlaufen müssten, damit etwa der elektronische Zahlungsverkehr gewährleistet bleibt. Dafür müssen wir zuerst einmal wissen, welche Rechenzentren hier entscheidend sind. Und daran arbeiten wir. Das ist weniger trivial, als es vielleicht klingt. Aber wir haben eine Arbeitsgruppe mit Banken, insbesondere der Nationalbank, und die kommt gut voran.​

Wieso hat man sich eigentlich nicht früher um solche und andere Fragen gekümmert und mit der Wirtschaft nach Lösungen gesucht?
Das wurde doch versucht. Bereits im September 2021 hat die wirtschaftliche Landesversorgung zusammen mit der Stromwirtschaft und dem damaligen Bundespräsidenten Guy Parmelin in Videos auf die Folgen einer Strommangellage hingewiesen. Das Interesse war gleich null. Bei den Medien ebenso wie bei der Wirtschaft. Erst wenn tatsächlich eine Mangellage näherkommt, bringt man die Leute an den Tisch. Das ist kein Vorwurf. So ist nun mal der Mensch.​

Käme es zu einer Strommangellage, wäre das letzte Mittel eine rollierende Netzabschaltung. Doch da will jede Lobbygruppe Ausnahmen und sieht sich als unentbehrlich an für die Landesversorgung. Wie soll das gehen?
Das geht natürlich nicht. In einer solchen Extremsituation müsste man strangweise abschalten. Ein Strang ist beispielsweise ein Quartier oder ein Dorf. Da kann es nur sehr wenige Ausnahmen geben, soweit das technisch überhaupt möglich ist. Für überlebenswichtige Akteure wie Spitäler sind deshalb Notstromanlagen unabdingbar.

Gibt es keine Ausnahmen für Migros oder Coop?
Nein. Alle müssen davon ausgehen, dass sie von einer Abschaltung betroffen sein könnten. Alle müssen selber vorsorgen, auch im Detailhandel. Ich gehe davon aus, dass die meisten auf Notstrom zurückgreifen müssten, um die wichtigsten Prozesse aufrechtzuerhalten.

Die Wirtschaftsverbände pochen darauf, dass im Fall einer Stromkontingentierung doch eine gewisse Flexibilität bleibt: Sollte demnach eine Firma ihr Kontingent nicht aufbrauchen, könnte sie es handeln. Wird das möglich sein?
Der Handel von Kontingenten ist im vorgegebenen Rahmen schon heute möglich. Wir haben zudem vom Bundesrat den Auftrag erhalten, den Umgang mit sogenannten Multisite-Verbrauchern vertieft zu prüfen, das heisst für Firmen mit unterschiedlichen Standorten. Zudem soll die Möglichkeit zur Weitergabe der Kontingente weiter optimiert werden. Die Arbeiten laufen noch.​

Das heisst, dieser kompliziertere Handel fällt aus der Verordnung raus?
Die Umsetzung wird als Pilotprojekt angestrebt.​

Derzeit jagt eine Krise die nächste. Plötzlich redete man wieder über die Pflichtlager. Welches Fazit ziehen Sie: Müssen die Lager angepasst werden?
Wir überprüfen die Vorgaben alle vier Jahre und wir werden das auch dieses Jahr wieder tun. Aber ich denke, die aktuellen Pflichtlagervorgaben sind vernünftig. Wir sollten nicht vergessen, auch die Bevölkerung sollte einen Notvorrat halten.​

Was horten Sie zu Hause?
Ich ziehe nicht jeden Tag Bilanz. Aber wir haben Reis und Konserven, damit können wir eine Weile überleben. Auch für unsere Tiere haben wir entsprechende Vorräte angelegt. Der Notvorrat war für meine Generation immer eine Selbstverständlichkeit.​

Was tun Sie dafür, dass diese Botschaft bei der breiten Bevölkerung ankommt, auch bei den Jüngeren?
Wegen der Pandemie ist das Thema wieder vermehrt ins Bewusstsein gerückt. Uns wurde klar, wie abhängig wir von den internationalen Lieferketten sind. Das hatte davor niemand interessiert. Die Wirtschaft und der Konsum liefen so, dass immer alles da war. Das hat sich jetzt geändert. Ja, wir müssen hier sicher noch mehr machen. Aber der Bund kann auch nicht alle Botschaften gleichzeitig platzieren. Jetzt geht es darum, Energie zu sparen.​

Haben Sie eigentlich auch Kerzen gekauft, wie Elcom-Präsident Werner Luginbühl?
Kerzen und Taschenlampen mit Batterien haben wir schon seit langem vorrätig. Auch Bargeld ist ein Thema. Man sollte immer etwas zu Hause haben.​

Fühlen Sie sich etwas einsam? Schliesslich wirkt es so, als sei ausser Ihnen niemand zuständig für die Versorgungssicherheit.
Nein. Die Landesversorgung ist Sache der Wirtschaft, so steht es ja auch im Gesetz. Der Bund soll nicht die Versorgung übernehmen. Er überträgt diese Aufgabe der Wirtschaft und regelt die Vorkehrungen und die Finanzierung der Pflichtlager.

Angesichts all der Krisen: Bräuchte es für die wirtschaftliche Landesversorgung nicht ein grösseres Amt mit mehr Mitarbeitenden statt dieser Zusammenarbeit mit der Wirtschaft?
Nein, ganz sicher nicht. Das wäre nicht sinnvoll. Ich sehe das auch jetzt, da wir aufgrund der Energiekrise eine wöchentliche Lagesitzung abhalten und alle Bereiche abfragen. Wir können so bei sich abzeichnenden Engpässen schnell reagieren. Das geht nur im Milizsystem, nur die Wirtschaft verfügt über die aktuellsten Informationen und Einschätzungen aus dem Markt.​

Und die Wirtschaft macht gerne mit?
Vielleicht nicht überall mit der gleichen Begeisterung. Aber es ist im ureigensten Interesse der Wirtschaft, dass die Landversorgung gewährleistet ist. Für mich jedenfalls, war es zu meiner Zeit in der Strombranche immer selbstverständlich, dass wir gewisse Ressourcen zur Verfügung stellen – und das nicht nur, weil es hierfür eine gewisse Entschädigung gibt.​

Sie kontrollieren auch den Bestand und die Verfügbarkeit von lebenswichtigen Medikamenten. Hier droht eine Versorgungskrise. Es fehlt etwa an Antibiotika, Adrenalin-Fertigpens, Reiseimpfstoffen oder oralen Opioiden.
Das Problem ist nicht neu, aber es spitzt sich zu. Und es ist ein Problem, das uns wohl noch Jahre beschäftigen und Sorgen bereiten wird.​

Woran liegt das?
Es gibt nicht eine einzige Ursache. Die Gründe sind vielfältig, die Probleme zeigen sich weltweit. So gibt es gewisse Wirkstoffe, die nur in China hergestellt werden und bei Lieferproblemen schlicht und einfach nicht mehr importiert werden können, und es gibt Wirkstoffe, die hier niemand verarbeiten kann. Dann ist die Schweiz ein kleiner, für manche Hersteller nicht wirklich interessanter Markt. Und vereinzelt gibt es auch Zulassungsfragen.​

Müssten denn die Vorgaben für die Heilmittelpflichtlager aufgestockt werden?
Eine theoretische Aufstockung bringt nicht viel. Wir müssen zuerst mal zusehen, dass wir die Lager wieder auffüllen können. Der Bundesrat hat uns und das Bundesamt für Gesundheit im Februar 2022 beauftragt, die Versorgungslage bei den Heilmitteln genauer zu analysieren. Die Arbeiten sind noch nicht abgeschlossen.​

Müssten die Pharmafirmen wieder vermehrt in der Schweiz produzieren?
Das wäre natürlich wünschenswert. Aber wir können keine Firma zwingen, hierzulande Heilmittel herzustellen.​

Und zum Abschluss: Wie wird denn der Winter 2023/24? Wird er tatsächlich schwieriger als der aktuelle?
Das hängt wie immer von vielen Faktoren ab. Aber es ist schon so: 2022 konnten wir in Europa noch bis weit in den Sommer hinein die Gasspeicher mit russischem Gas auffüllen. 2023 müssen wir wahrscheinlich ganz ohne russisches Gas auskommen. Das Risiko, dass der nächste Winter eine Krise bringt, ist real – auch wenn wir diesen Winter ohne Krise durchkommen sollten. Das wissen wir ja jetzt noch nicht. Der Winter ist noch lange nicht vorbei. Warten wir die Lichtmess ab.​

Lichtmess?
Der Kirchfeiertag Mariä Lichtmess ist der 2. Februar. Gemäss Bauernregel sollte dann erst der halbe Heustock aufgebraucht sein. Sonst muss man eine Kuh verkaufen oder sonst wie reagieren. Ich finde solche Regeln gut, sie basieren auf realen Erfahrungswerten. Das heisst aber auch, dass am 2. Februar erst der halbe Winter vorbei ist. (aargauerzeitung.ch)​

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