Die frühere FDP-Staatsrätin Marina Masoni bezeichnet das Tessin als eingeigelten Kanton, der die Grenze zu Italien nicht als Chance, sondern als Bedrohung wahrnimmt. Hat sie recht?
Sergio Savoia: Ich kann das nicht nachvollziehen. Das Tessin ist im Gegenteil einer der offensten Kantone der Schweiz. Unsere Wirtschaft ist vollständig in die lombardische integriert. Rund ein Drittel der Arbeitnehmer sind Grenzgänger, ein Viertel der Einwohner hat einen ausländischen Pass. Etwa 5000 Firmen haben sich im Tessin niedergelassen. Wir sind auch kulturell sehr offen gegenüber Italien. Das heisst aber nicht, dass wir unseren Arbeitsmarkt nicht verteidigen sollten gegenüber den negativen Folgen des freien Personenverkehrs.
Wie kommt Masoni zu ihrer Meinung?
Liberale wie Marina Masoni denken, wir sollten alles akzeptieren. Andere meinen, wir müssten uns vollkommen abschotten. Die mittlere Position findet die Öffnung im Grundsatz gut, aber sie muss mit Mass erfolgen. Das betrifft in erster Linie die Grenzgänger, die zu sehr tiefen Löhnen arbeiten und damit den Arbeitsmarkt unter Druck setzen. Daran sind nicht sie schuld, sondern die Unternehmen und die Regierungen von Bund und Kanton. Die Mär vom eingeigelten Kanton wird verbreitet, damit man weiter Grenzgänger zum halben Lohn der Einheimischen anstellen kann.
Die Grenzgänger scheinen das dominierende Thema im Tessiner Wahlkampf zu sein.
Nicht die Grenzgänger, sondern der Druck auf die Löhne. Dabei spielt Fremdenfeindlichkeit keine Rolle, das Tessin ist nicht fremdenfeindlicher als Basel, Zürich oder Genf.
Trotzdem scheint das Verhältnis der Tessiner zu Italien angespannt zu sein.
Das ist auch nicht ganz richtig. Die Lombardei hat 9,7 Millionen Einwohner, sie ist grösser als die Schweiz. Und sie ist wirtschaftlich stark, trotz der Krise in Italien. Genf, Basel oder die Ostschweiz haben vor ihren Toren keine Grossstadt wie Mailand. Unser wirtschaftliches, kulturelles und geografisches Zentrum befindet sich jenseits der Grenze, es übt eine enorme Anziehungskraft aus. Umgekehrt aber gibt es einen grossen demografischen Druck. Nimmt man das Piemont hinzu, das ebenfalls ans Tessin grenzt, leben 14 Millionen Menschen in unserem Umfeld. Wenn nur zehn Prozent bei uns arbeiten wollen, entsteht ein Druck wie in keiner anderen Grenzregion der Schweiz. Es gibt in Italien viele gut qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte. Sie arbeiten für einen Drittel bis die Hälfte weniger als die Einheimischen. Daraus entsteht eine negative Dynamik.
Viele italienische Firmen haben sich im Tessin niedergelassen und beschäftigen vorwiegend Landsleute zu tiefen Löhnen.
Das Tessin ist sehr attraktiv für italienische Unternehmen. Allein in den letzten vier bis fünf Jahren haben sich rund 5000 Firmen angesiedelt. Nur in Zürich waren es mehr, und unsere Bevölkerung ist dreimal kleiner. Die Gründe dafür sind die Steuern, das funktionierende System mit wenig Bürokratie und der flexible Arbeitsmarkt. Deshalb können sie Löhne zahlen wie in Italien. Der Durchschnittslohn in der Lombardei beträgt rund 1500 Franken. Damit befindet man sich in der Schweiz unterhalb der Armutsgrenze.
Deshalb haben die Tessiner Grünen die Ja-Parole zur Masseneinwanderungs-Initiative beschlossen?
Die Initiative ist bei weitem nicht perfekt, dennoch haben wir uns für ein Ja entschieden. Wenn wir keine Gegenmittel für die negativen Folgen der Personenfreizügigkeit finden, wird es im Tessin zu einem sozialen Desaster kommen. Die Löhne sind rund 1000 Franken tiefer als in der übrigen Schweiz, und je nach Branche ist der Unterschied noch deutlich grösser. Bei den Preisen aber gibt es kaum einen Unterschied. Die Mieten sind in Lugano etwa gleich hoch wie in Zürich. Wir haben eine Wirtschaft mit lombardischen Löhnen und Schweizer Preisen. Das ist das Rezept für ein Desaster. Der 9. Februar 2014 war die Gelegenheit, um zu sagen: basta!
Was muss getan werden?
Die Personenfreizügigkeit muss nicht aufgekündigt, aber neu verhandelt werden. Es ist falsch zu behaupten, es gebe nur die Alternative zwischen den bilateralen Verträgen und dem 9. Februar.
Brüssel aber stellt die Schweiz vor genau diese Alternative.
Die Schweiz muss erhobenen Hauptes mit der EU verhandeln und nicht auf den Knien. Bislang hat man genau das gemacht. Aber wir sind ein souveränes Land. Das Volk hat eine Entscheidung gefällt, die man respektieren muss.
Das ist die Sprache der SVP.
Unsinn. Ich bin gegen die zweite Tunnelröhre am Gotthard. Wenn sich das Volk jedoch dafür entscheidet, muss ich das akzeptieren. Wir haben eine direkte Demokratie, bei uns entscheiden nicht Brüssel oder die Richter, sondern das Volk. Es mag sein, dass die SVP ähnliche Dinge sagt. Deswegen sind sie nicht falsch. Manchmal hat die SVP recht, manchmal unrecht.
Auf nationaler Ebene haben Sie sich damit in Ihrer Partei nicht beliebt gemacht.
Bei gewissen Leuten. An der Basis aber gibt es Grüne, die sich ebenfalls Fragen stellen. Das betrifft auch das Verhältnis zur SP. Wir haben früh entschieden, dass wir nicht das zweite oder dritte Standbein der SP sein wollen. Das Thema Einwanderung etwa wollen wir nicht der Lega oder der SVP überlassen, das wäre ein riesiger Fehler. Man sieht dies bereits auf nationaler Ebene. Die Linke hat die Tendenz, die Leute zu belehren, weil sie zu wissen glaubt, was richtig ist und was falsch.
Sehen Sie darin einen Grund für die Wahlniederlagen der Grünen etwa in Zürich?
Wir haben im Tessin vor sechs Jahren begonnen, die Partei zu modernisieren. Uns war klar, dass das Thema Umweltschutz allein nicht genügt. Wenn das Geld nicht bis zum Monatsende reicht, kümmert die Menschen das Ozonloch oder der Klimawandel wenig. Deshalb haben wir uns auch den Themen Arbeitsmarkt, Wirtschaft und Zuwanderung angenommen. Kritiker behaupten, wir seien keine ökologische Partei mehr. Das stimmt nicht, aber als «Birkenstock und Tofu»-Partei kommt man bei Wahlen auf zwei Prozent. Genau so war es, als ich mein Amt antrat.
Ein Resultat dieser neuen Linie ist die Volksinitiative der Grünen für einen kantonalen Mindestlohn, die der Grosse Rat kürzlich eher überraschend angenommen hat.
Überrascht waren vor allem jene Grünen, die uns als rechts oder fremdenfeindlich bezeichnet haben. Der Mindestlohn ist ein typisch linkes Anliegen, deshalb ist mir die Debatte auch egal, ob die Tessiner Grünen rechts oder links sind. Unser Erfolg im Kantonsparlament war nur möglich, weil wir mit der Lega und der SP zusammengearbeitet haben. Im Tessin geht so etwas nicht ohne die Lega, da muss man realistisch sein.
Über die Initiative wird am 14. Juni abgestimmt. Wie sehen Sie die Chancen?
Es wird schwierig. Wenn wir Erfolg haben, wird der Anspruch auf einen würdigen Lohn in der Kantonsverfassung stehen. Das wäre ein enormer Fortschritt. Ob es klappt, werden wir sehen. Es gibt bereits eine vehemente Nein-Kampagne von FDP und SVP. So viel zu unserer angeblichen SVP-Nähe.
Ist diese Initiative wirklich eine Lösung gegen das Lohndumping?
Sie wird nicht alle Probleme lösen. Wir können nicht einfach über einen kantonalen Mindestlohn verfügen, dafür fehlt die rechtliche Grundlage auf nationaler Ebene. Zumindest sollte es aber Untergrenzen geben, damit die Löhne nicht immer weiter sinken. Ausserdem brauchen wir Kontingente, einen Inländervorrang und die flankierenden Massnahmen. In diese Bereich fallen die Normalarbeitsverträge. Im Tessin gibt es bereits 14, in der übrigen Schweiz zusammen nur sieben. Das zeigt das Ausmass des Problems. Der letzte Normalarbeitsvertrag wurde übrigens für die Sekretariate von Anwaltskanzleien abgeschlossen. Auch dort gibt es einen Lohndruck. Jetzt diskutiert man über einen solchen Vertrag für die Architekten und Ingenieure.
Eine erstaunliche Entwicklung.
Der Lohndruck hat Branchen erfasst, die noch vor ein paar Jahren sicher schienen. Deshalb haben im Tessin fast 70 Prozent Ja gesagt zur Masseneinwanderungs-Initiative. Mit Fremdenfeindlichkeit lässt sich das nicht erklären.
Sie haben die zweite Gotthard-Röhre erwähnt. Warum sind Sie dagegen?
Wir brauchen nicht mehr Verkehr, sondern müssen ihn auf die Schiene verlagern, besonders den Warenverkehr. Ausserdem wird die EU Druck machen, dass wir beide Tunnelröhren zweispurig betreiben und die 60-Tönner zulassen.
Der Bundesrat stellt dies in Abrede.
Die Schweiz konnte dem Druck der Europäischen Union noch nie widerstehen, weshalb sollte das hier der Fall sein? Der Hauptgrund für meine Opposition aber ist die Tatsache, dass die Tessiner Verkehrsprobleme im Süden und nicht im Norden existieren. Auf jeder Strasse zwischen Bellinzona und Chiasso verkehren mehr Autos als am Gotthard, vor allem wegen des Grenzverkehrs mit der Lombardei. Das Geld für den zweiten Gotthardtunnel fehlt zur Lösung dieser Probleme.
Politiker wie CVP-Ständerat Filippo Lombardi erwecken aber den Eindruck, die zweite Gotthard-Röhre sei für das Tessin von existentieller Bedeutung.
Lombardi hat persönliche Interessen. Sein Vater hat den heutigen Tunnel geplant und gebaut. Die Interessen von Filippo Lombardi decken sich nicht immer mit jenen des Kantons.
Wie beurteilen Sie das Verhältnis zwischen Tessinern und Deutschschweizern?
Beim freien Personenverkehr habe ich den Eindruck, dass man in Bern Schwierigkeiten hat zu verstehen, was im Tessin geschieht. Im Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungs-Initiative kam kein einziges Mitglied des Bundesrats ins Tessin. Man dachte wohl, wir seien nicht relevant. Im Nachhinein erschien der Bundesrat fast in corpore. Für uns war das «too little too late». Und geändert hat sich nichts. Der Bundesrat hat letzte Woche beschlossen, die Verschärfung der flankierenden Massnahmen auf Eis zu legen. Das ist unverantwortlich. Wir können nicht warten! Deshalb fühlen wir uns vernachlässigt.
Dadurch wächst die Entfremdung?
Das Misstrauen gegenüber Bundesbern hat stark zugenommen. Vor 20 Jahren war es vor allem die Lega, die über die «Landvögte» herzog. Heute ist dieses Gefühl sehr viel weiter verbreitet. Ich bin kein Legist, aber ich habe ebenfalls den Eindruck, dass Bern nicht wirklich versteht, was im Tessin abgeht. Man hat die Lektion des 9. Februar nicht begriffen.
Deshalb konnte die Lega im Tessin so stark werden?
Einige Leute behaupten, die Lega habe diese Gefühle gegenüber Bern geschürt. Das Gegenteil ist der Fall. Die 65'000 Grenzgänger und der Lohndruck wurden nicht von der Lega erfunden. Ihr historisches Verdienst ist es, dass sie diese Gefühle zum Ausdruck brachte. Sie hat die Debatte aus den Grotti und den Bars in die politische Arena getragen. Das ist gut für die Demokratie. Man hat mich wegen solcher Ansichten als Populist bezeichnet. Das ist okay, ich bin lieber Populist als Pädagoge.
Kann die Lega auch nach dem Tod ihres Gründers Giuliano Bignasca Erfolg haben?
Schwer zu sagen. Aber wer glaubt, die Lega sei nach dem Tod von Bignasca am Ende, dürfte sich irren. Denn die Gründe für die Stärke der Lega existieren nach wie vor. Man spürt im aktuellen Wahlkampf aber, dass Bignasca nicht mehr da ist. Er verläuft viel ruhiger.
Sie kandidieren für den Staatsrat, die fünfköpfige Kantonsregierung. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein?
Auf rund zehn Prozent (lacht). Es ist schwierig, wir wählen nach Proporz. In einem Majorzsystem hätte ich wohl eine Chance von 70 Prozent. Ich bin ziemlich populär und kann einige Stimmen holen. Die Grünen müssten ihren Stimmenanteil gegenüber 2011 (6,1 Prozent) vermutlich verdoppeln, damit es für einen Sitz reicht. In vier Jahren könnte es so weit sein. In diesem Jahr wollen wir in erster Linie im Grossen Rat zulegen. 2007 eroberten wir vier Sitze und 2011 sieben.
In der übrigen Schweiz verlieren die Grünen.
Ich kann mich irren, aber die Umfragen besagen, dass wir zulegen werden. In diesem Fall müssten sich die Grünen fragen, ob das Tessiner Rezept andernorts angewendet werden kann.
Falls es für die Regierung nicht reicht, könnten Sie für den Nationalrat kandidieren.
Ich habe mich noch nicht entschieden. Es ist aber gut möglich, dass ich antreten werde. Die Grünen werden sicher auch für den Ständerat kandidieren. Das könnte interessante Ergebnisse bringen (schmunzelt). Aber vor dem 20. April werde ich mich nicht festlegen.
Politiker aus dem Tessin klagen häufig darüber, dass der Kanton seit 1999 nicht mehr im Bundesrat vertreten ist. Sehen Sie das auch als Problem?
Nein, denn es fehlt an überzeugenden Persönlichkeiten. Man kann aber diskutieren, ob der Bundesrat auf neun Mitglieder erweitert werden sollte. Dann könnten die verschiedenen Regionen repräsentativer vertreten sein. Und die Arbeitslast wäre besser verteilt. Wir brauchen aber nicht zwingend einen Bundesrat, um auf nationaler Ebene besser geschützt zu sein. Ein Bundesrat muss für die Schweiz arbeiten, nicht nur für das Tessin.
Das Problem sind die Persönlichkeiten?
Fulvio Pelli wäre vielleicht in Frage gekommen. Ich will in erster Linie Bundesräte, die sich für die ganze Schweiz einsetzen. Allerdings habe ich auch das Gefühl, dass es dem Bundesrat in der jüngeren Vergangenheit an Sensibilität gegenüber den Randgebieten gefehlt hat. Das betrifft nicht nur uns. Die Randregionen sind ein wenig vergessen worden.
Noch einmal zurück zu Marina Masoni: Sie behauptet auch, die kommenden Jahre dürften für das Verhältnis des Tessin zum Rest des Landes sehr schwer werden.
Es ist heute schon schwierig. Deshalb ist es wichtig, dass man hart verhandelt, sei es die Schweiz mit der EU oder das Tessin mit der Schweiz. Ich werfe unserer Kantonsregierung vor, dass sie mit dem Rest der Schweiz stets auf den Knien verhandelt hat. Man muss Rückgrat zeigen, seine Interessen konsequent vertreten. Graubünden zum Beispiel macht das sehr gut.
Es gibt die Sprachbarriere ...
Das ist keine Ausrede für diese Unterwürfigkeit. Selbst Regierungsmitglieder, die im Kanton sehr stark auftreten, haben einen Minderwertigkeitskomplex gegenüber Bern. Wir brauchen eine neue Generation von Politikern, die hart und selbstbewusst mit Bern verhandelt.
Das heisst: Sie müssen ran.
(lacht) Darüber muss das Volk entscheiden.