Eigentlich ist ihr Name ein Etikettenschwindel: Berner Zungenwurst. Denn Zunge ist in ihr schon lange keine mehr drin. Man kann das bedauern, schliesslich gelten die Zungen von Schwein und Rind als bekömmlich. Die älteste Erwähnung der Zungenwurst findet sich im «Neuen Berner Kochbuch» aus dem Jahr 1935. Darin war die Rede von «zwei bis drei Schweinszünglein».
Ein einziges Missverständnis also? Schon bald war die Zungenwurst vom Rezept her eher eine gebrühte Hammenwurst. Heute zeichnet sie sich durch ihre Mischung aus feinem und grobem Brät aus, ihre Masse wird aus Schwein und Rind, Speck, Schwarte und Gewürzen hergestellt. Sie wird warm geräuchert. Trotz fehlender Zunge bietet die Zungenwurst weiterhin viel Geschmack, und noch immer darf sie auf keiner «Berner Platte» fehlen.
Nun soll dieses urbernische Kulturgut vor Nachahmung geschützt werden – mit dem Qualitätszeichen IGP, das für «geschützte geografische Angabe» steht. Das Bundesamt für Landwirtschaft hat jüngst ein entsprechendes Gesuch veröffentlicht. Erhebt niemand Einsprache, gehört die Zungenwurst bald zum exklusiven Kreis der Schweizer Produkte, die rechtlichen Schutz geniessen. Neben IGP gibt es das noch strengere Qualitätszeichen AOP, es bedeutet «geschützte Ursprungsbezeichnung». 20 Jahre ist es her, seit die Schweiz gesetzliche Bestimmungen für den Herkunftsschutz eingeführt hat. Sie sollen Produzenten vor Missbrauch schützen – und Konsumenten vor Täuschung.
Im AOP-IGP-Register des Bundes sind heute 38 Produkte verzeichnet. Dazu gehören etwa Käsesorten wie Emmentaler, Gruyère und Tête de Moine, Wurstwaren wie der Waadtländer Saucisson und die St. Galler Bratwurst oder Backwaren wie die Zuger Kirschtorte und das Walliser Roggenbrot. Es sind allesamt Spezialitäten, die seit Generationen stark mit ihrer Ursprungsregion verbunden sind. Sie müssen nach traditioneller Machart hergestellt werden. Bei AOP-Produkten kommt alles aus einer klar definierten Region, vom Rohstoff bis zum Endprodukt. IGP-Produkte werden derweil entweder im Herkunftsort erzeugt, verarbeitet oder veredelt.
Die geschützten Bezeichnungen dürfen nur Produkte tragen, die einem umfangreichen Pflichtenheft entsprechen. Wer sich nicht daran hält, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Das Pflichtenheft von Sbrinz beispielsweise schreibt vor, dass ein Käse zwischen 35 und 48 Kilogramm wiegen und einen Durchmesser von 50 bis 63 Zentimetern haben muss. Die Futterration der Milchkühe – nur Gras und Heu, kein Silofutter – wird ebenso reguliert wie die «Sbrinz-spezifischen, mehrheitlich thermophilen Milchsäurekulturen».
Lässt eine Branche ihre Spezialität schützen, stehen dahinter handfeste wirtschaftliche Überlegungen. Die Qualitätszeichen sollen Produzenten die Vermarktung ihrer «authentischen Spitzenerzeugnisse» erleichtern, so formuliert es der Bund. Die Produzenten erhalten Mittel zur Absatzförderung in Millionenhöhe. 2018 wurden rund 71 000 Tonnen Produkte mit AOP oder IGP abgesetzt, wie vergangene Woche publizierte Zahlen zeigen. Der Umsatz belief sich schätzungsweise auf 1.6 Milliarden Franken. Das zweite Jahr in Folge konnte der Absatz gesteigert werden, nachdem er zuvor einige Zeit rückläufig war.
Ohnehin geht es nicht allein um Geld. Sondern auch darum, das kulinarische Erbe als identitätsstiftend zu positionieren. Mit Essen lässt sich gut Staat machen. Ernährung geniesst eine immer grössere gesellschaftliche Bedeutung. Kein Wunder, hat sogar die Kulturdiplomatie ihre Reize entdeckt. Die PR-Agentur des Aussendepartements, Präsenz Schweiz, poliert den Ruf des Landes mit dem Glanz geschützter Produkte auf.
Die Ursprungsbezeichnungen sind indes auch Juristenfutter. Aktuell beschäftigen sich die Behörden mal wieder mit Absinth, dem hochprozentigen Kräuterschnaps. Seit der Jahrtausendwende kämpfen die Brenner aus dem Neuenburger Val-de-Travers dafür, dass ihre «Grüne Fee» ins Bundesregister aufgenommen wird. Dann endlich, im Jahr 2012, bestätigte der Bund die Eintragung von «Absinthe» als IGP-Erzeugnis. Es hagelte Einsprachen. Besonders französische Produzenten stellten sich gegen das Vorhaben. Die Marke «Absinth» dürfe nicht der Schweiz vorbehalten sein, fanden sie mit Verweis auf ihre eigene Brenntradition.
Dieser Ansicht war schliesslich auch das Bundesverwaltungsgericht: «Absinthe» sei die Bezeichnung eines vom Herkunftsorts unabhängigen Produktes, ein Eintrag ins Bundesregister deshalb nicht statthaft. Ähnlich erging es übrigens Walliser Käsern, die in den 2000er-Jahren erfolglos versuchten, den Begriff «Raclette» zu registrieren. Es handle sich um ein Gericht und nicht um eine Käsesorte, urteilten die Richter.
Im Fall des Absinths gaben die Brenner aus dem Val-de-Travers nicht auf. Vor drei Jahren reichten sie ein neues Gesuch ein. Zumindest die Ursprungsbezeichnung «Absinthe du Val-de-Travers» solle nun geschützt werden, so ihr Ziel. Doch erneut regt sich Widerstand – diesmal aus den eigenen Reihen: Einzelne Produzenten finden das Pflichtenheft zu streng. Sie wehren sich dagegen, dass die Hauptkräuter für den Schnaps aus der Region kommen müssen. Die Verwaltung hat ihre Beschwerden zwar kürzlich abgewiesen.
Nun ziehen die unzufriedenen Produzenten den Entscheid aber erneut ans Bundesverwaltungsgericht weiter. Das Bundesamt für Landwirtschaft bestätigt entsprechende Informationen dieser Zeitung. Wegen des laufenden Verfahrens könne man sich nicht näher dazu äussern, erklärt Paolo Degiorgi vom zuständigen Fachbereich.
Reibereien sind indes nicht ungewöhnlich. Darauf verweist die Schweizerische AOP-IGP-Vereinigung, in der sich 1500 Hersteller zusammengeschlossen haben. Dass zwischen der Einreichung eines Dossiers und dem Entscheid oft Jahre verstreichen, habe mit der Schwierigkeit zu tun, alle Akteure hinter einer einzigen Definition zu vereinigen. Zudem seien die eingereichten Dossiers anfänglich oft unvollständig – «weil die Produzenten die typischen Eigenschaften und Besonderheiten ihres Erzeugnisses nicht gut genug hervorgehoben haben».
Aus der Sicht von Géraldine Savary, Präsidentin der Vereinigung und Waadtländer SP-Ständerätin, ist der Absinth unterdessen «ein Symbol des langen und gewundenen Weges bis zur Registrierung als AOP oder IGP».
Die Eintragung der Berner Zungenwurst immerhin dürfte kaum zu einem langwierigen Rechtsstreit führen. Weil die Spezialität vorwiegend im Bernbiet produziert wird, rechnet niemand mit Widerstand. Sorgen bereitet den Metzgern eher, dass der Begriff «Zunge» auf manche Konsumenten abschreckend wirkt.