Am 29. November 2020 erscheint die Waadtländer GLP-Nationalrätin Isabelle Chevalley in den Abendnachrichten des Westschweizer Fernsehens. Es ist Abstimmungssonntag. Die Politikerin freut sich über ihren Sieg gegen die Konzernverantwortungsinitiative.
Rémy S., ein 23-jähriger Verkaufsangestellter, verfolgt die Sendung und schickt der Politikerin um 19.47 Uhr eine E-Mail mit einer Morddrohung: «Sie werden Weihnachten nicht mit Ihrer Familie verbringen. Wir werden Sie fesseln, Ihre Knochen zerquetschen und Ihr Blut trinken.» Und:
Chevalley nimmt die Worte ernst und erstattet Anzeige. Sie politisiert seit zwanzig Jahren und hat schon viele Hassmails erhalten. Eine Morddrohung war aber noch nie darunter.
Die Polizei handelt sofort. Cyberspezialisten ermitteln die Identität des Absenders und schon am nächsten Abend wird Rémy S. verhaftet. Er ist vorbestraft wegen ähnlicher Delikte. Nun hat die Bundesanwaltschaft einen Strafbefehl gegen ihn ausgestellt. Sie verurteilt ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 1500 Franken und einer Busse von 300 Franken.
Chevalley sagt, die Strafanzeige sei die einzige Möglichkeit gewesen, um herauszufinden, ob ihr Leben und jenes ihrer Familie tatsächlich in Gefahr war. Zum Polizeieinsatz sagt sie: «Ich war sehr beeindruckt von der Effizienz der Ermittler.»
Das Bundesamt für Polizei Fedpol erfasst Meldungen über Drohungen gegen Politiker und Behördenmitglieder des Bundes. Auf Anfrage gibt Fedpol die definitive Statistik für das Coronajahr 2020 bekannt (bisher kursierten erst provisorische Zahlen): 885 Meldungen gingen ein. 64 davon wurden als potenzielle Gefahr eingestuft. In diesen Fällen führt die Bundespolizei sogenannte Gefährderansprachen durch oder schickt den Absendern einen Brief. Wenn eine bedrohte Person Anzeige erstattet, eröffnet die Bundesanwaltschaft ein Strafverfahren.
Die Fedpol-Analysten sehen einen Zusammenhang zwischen den politischen Themen, die ein Jahr prägen, und der Zahl der gemeldeten Drohungen. Besonders viele Fälle registrierten sie während der Debatte zur Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016. Danach wurde es ruhiger. Mit dem Ausbruch der Pandemie und dem Lockdown schnellte die Zahl der eingegangenen Drohungen wieder in die Höhe. «Mit zunehmender Dauer der Krise wurde der Ton der erfassten Mitteilungen aggressiver», sagt ein Fedpol-Sprecher.
Diese Erfahrung macht auch die Aargauer Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel. Seit der Pandemie hätten krasse verbale Attacken zugenommen. In ihrer Mailbox landete folgende Nachricht:
Die Nationalrätin schaltete den Bundessicherheitsdienst von Fedpol ein. Dieser antwortete, der Absender sei den Behörden bekannt. Der Mann behellige andere Politiker auf ähnliche Weise. Hinweise auf eine Gefährdung für Humbel bestünden aber keine. Sie verzichtete auf eine Anzeige: «Das angespannte Klima, ausgelöst durch die Coronafrustrationen, könnte sich noch verschärfen, wenn man solchen Vorfällen zu viel Aufmerksamkeit schenkt.» Sie kritisiert die SVP. Mit ihren Diktatorenvergleichen befeure die Partei den gehässigen Diskurs.
Die Drohungen erreichen die Politiker nicht nur digital. Die Berner FDP-Nationalrätin Christa Markwalder hat ein Paket mit einem Strick erhalten und der Aufforderung:
Sie habe keine Anzeige erstattet, weil sie die Frist von drei Monaten verpasst habe, sagt sie.
Absender der makaberen Post ist Willi Zürcher, ein 83-jähriger pensionierter Metzger aus Thal SG. Am Telefon sagt er, dass er schon vielen Politikern Pakete mit dem gleichen Inhalt geschickt habe. Es gebe eigentlich nur einen, den er wirklich gut finde: Christoph Blocher. Zürcher redet seine Beleidigungen klein. Er fordere die Politiker ja dazu auf, selber Hand anzulegen. Dies sei nobler als eine plumpe Drohung, meint er. Bisher habe er nie eine Antwort erhalten, auch nicht von einer Strafverfolgungsbehörde.
Die Waadtländer FDP-Nationalrätin Jacqueline de Quattro sagt: «Es ist dramatisch, wie die persönlichen Angriffe zugenommen haben.» Sie höre von vielen Frauen, dass sie sich dadurch abgeschreckt fühlten, überhaupt erst in die Politik einzusteigen. Deshalb fordert sie eine Gesetzesänderung: Drohungen gegen Politiker und Behörden des Bundes sollen als Offizialdelikt eingestuft werden. Das bedeutet, dass sie von Amtes wegen verfolgt werden müssten.
Der Bundesrat lehnt die Motion ab. Ein Strafverfahren könne für Politiker und Behördenmitglieder auch Nachteile haben. Sie könnten ihre Privatsphäre schützen wollen, was sich auch mit dem Landesinteresse decken könne. Denn durch eine gezielte Drohung könnten Richterinnen oder Staatsanwälte in ein Strafverfahren verwickelt und so in den Ausstand gezwungen werden.
Ein weiteres Gegenargument lautet: Sollen Politiker besser behandelt werden als normale Bürger? De Quattro entgegnet: «Es geht mir um den Schutz der Institutionen.» Sie akzeptiert die Antwort des Bundesrats nicht und verlangt eine Debatte im Parlament.
Ruth Humbel wird dagegen votieren. Denn auch gewisse Politiker würden sich grenzwertig benehmen und Behördenmitglieder verunglimpfen.
Ziehen wir eine klare Grenze, bevor wir einen Fall wie Walter Lübcke erleiden müssen.