Amy, die in Wirklichkeit anders heisst, spielt regelmässig Onlinegames auf der Plattform Roblox. Neben dem Spass an Spielen in Regenbogen- und Abenteuerländern bekommt die 13-jährige Amy jedoch immer wieder Chatnachrichten von Erwachsenen, die sich mit ihr treffen wollen.
«Zu Beginn waren die Nachrichten meist noch harmlos, doch dann wollten die anderen User schnell in andere Chats wechseln. Sie fingen auch an, mir zu drohen», sagt sie. Amy bekommt es schliesslich mit der Angst zu tun und wendet sich an ihre Eltern. Diese sind schockiert von den Vorgängen auf Roblox: «Wir verlangen, dass diese Plattform sofort verboten wird. Es gibt keine Alterskontrolle auf Roblox – ein Paradies für Pädophile», sagen die beiden Eltern aus dem Thurgau.
Im Februar verzeichnete Roblox täglich mehr als 85,3 Millionen aktive Nutzer weltweit, davon waren laut Statistik 40 Prozent unter 13 Jahre alt. Roblox schreibt auf der Plattform immer wieder, dass User auffälliges Verhalten und Chatnachrichten melden sollen. Bei Amys Eltern sorgt dieser Ratschlag für Kopfschütteln: «Bei so vielen Millionen Usern können die Betreiber doch gar nichts gegen Fehlverhalten unternehmen», sagt der Vater aus dem Thurgau. Es gehe doch nur ums Geld, mutmasst er.
2024 erwirtschaftete das US-amerikanische Unternehmen Roblox mit Sitz in San Mateo, Kalifornien, einen Umsatz von 3,6 Milliarden US-Dollar. Dabei ist eine der Haupteinnahmequellen der Plattform die eigene Währung, «Robux» genannt. Diese Währung kann in der Schweiz an vielen Verkaufsstellen wie am SBB-Schalter, bei Digitec oder bei der Post gekauft werden. Werden in den Spielen Käufe getätigt, können diese auch über die Telefonrechnung verbucht werden.
Um selbst einen Einblick in die Welt von Roblox zu bekommen, loggen wir uns ein. Wir haben einen Selbstversuch unternommen, Roblox gespielt und sind innerhalb weniger Tage auf all jene Gefahren gestossen, vor denen der Jugendschutz warnt: allen voran Erwachsene mit sexuellen Interessen an Kindern. Sollte Roblox strengeren Auflagen unterliegen – oder müssen wir akzeptieren, dass so die «Kindheit von heute» aussieht?
Eine Alterskontrolle gibt es bei Roblox nicht. Gefragt wird beim Anlegen eines neuen Accounts lediglich nach einer Mailadresse, einem Geburtsdatum und nach einem Namen für das Alter Ego, das man dann durch die Spielwelten jagt. Wir nennen uns Anna und melden uns an.
Anna loggt sich mit einem Benutzernamen ein, der auf einen Blick klarmacht, dass wir ein 12-jähriges Mädchen sind: Neben unserem Namen schreiben wir auch unser Geburtsjahr 2012 in den Namen des Avatars.
Was das für gruselige Dinge sind, erleben wir gleich selbst: Wir beginnen mit einem harmlos aussehenden Spiel, bei dem es darum geht, Rohstoffe wie Holz und Metall zu sammeln, um damit einen Turm zu bauen. Immer wieder werden wir aufgefordert, reales Geld auszugeben, um schneller Erfolge zu erzielen.
Für fünf Franken können wir uns etwa ein Holzgewehr kaufen. Warum man ein Holzgewehr braucht, um Rohstoffe zu sammeln, zeigt sich etwas später: Auf der Karte treiben sich auch Zombies herum, die magische Schlüssel dabeihaben. Mit diesen kann man zusätzliche Rohstoffe in Tresoren abholen. Es gibt jedoch auch andere User, die genau das erwarten und einem mit ihren Gewehren gleich den Garaus machen.
Nach mehreren solchen Überfällen beginnt ein anderer User in einem Katzenkostüm immer wieder, uns anzugreifen. Überall taucht er auf und schiesst unseren Avatar ab. Dann eine Chatnachricht: «Du bist zu schlecht, Mädchen! Du hast keine Chance.» Mehrmals schreiben wir zurück, dass er aufhören soll, ohne Erfolg.
Der User schreibt immer deutlichere Nachrichten wie: «Du kannst mir ja vielleicht etwas von dir schicken, dann höre ich auf.» Auf die Frage, was wir denn schicken sollen, bekommen wir einen Link für einen Chat und einige Emojis:
– was eine codierte Aufforderung zu sexuell motivierten Handlungen ist. (Die Bedeutung der Emojis ist: Zunge für Oralsex, Aubergine für einen Penis, ein Pfirsich für einen Frauenhintern und die Spritzer für Ejakulat.) Wir melden den Vorfall und brechen das als «Erlebnis» bezeichnete Spiel ab.
Mehrere Spiele in der Roblox-Welt werben damit, dass man bei «Umarmungsspielen» neue Leute kennenlernen kann. An einem Samstagabend sind diese Räume voller Userinnen und User. Es wird schnell gechattet und an mehreren Orten kann man Flaschendrehen spielen. «Wahrheit oder Pflicht» wie früher im Klassenlager.
Die schmusig dekorierten Spiele verfügen über Schlafzimmer mit Leuchtgirlanden, gemütliche Sofas und Betten, wo die Avatare entspannen können. Schnell bekommt man auch private Nachrichten von anderen Userinnen und Usern.
Viele schreiben auf Deutsch: «Hey, woher kommst du? Wie alt bist du?» Danach folgen nicht selten Einladungen in Chats auf Messengerdienste wie Discord oder Telegram. Wer hinter den Accounts steckt, ist nicht ersichtlich.
Oft wird man in den Chats auch gefragt, ob man in ein anderes Spiel wechseln möchte, da die andere Person dort VIP sei und man dort zum Beispiel tanzen gehen könne. Wir folgen einer Gruppe anderer Userinnen und User in ein Game, welches keinen Namen trägt: [Beschreibung entfernt], steht als Titel. Das Spiel ist eine Art grosse Diskothek mit lauter Musik und vielen anderen Userinnen und Usern.
Zu Beginn befindet man sich in einem Ankleideraum, in dem man sich verschiedene Kostüme und Kleider aussuchen kann. Auffällig viele Frauenkleider sind sehr freizügig. Einige erinnern an bekannte Anime-Figuren aus der Erotikbranche.
Auf der Tanzfläche kann man verschiedene Tanzstile anwählen, die unsere Figur dann auch tanzt. Trifft man andere Figuren, kann man deren Tanz übernehmen, ihnen Herzchen schicken, sie umarmen oder sie auch huckepack nehmen. Nach einer kurzen Tanzeinlage nimmt eine männliche Figur unseren Avatar huckepack und trägt ihn von der Tanzfläche weg.
Steuern kann man in diesem Moment seine Figur nicht mehr. Wir werden durch einige Türen getragen und durch einen langen Gang gebracht. Der andere Account reagiert nicht auf eine Chatnachricht: «Was machst du? Wo gehen wir hin?»
Ahnungslos werden wir in ein privates Zimmer transportiert, zu dem nur der Nutzer selbst Zugang hat: eine Art Schlafzimmer mit Dusche, Swimmingpool und einem Billardtisch. Was dann folgt, ist auf viele Arten verstörend: Mehrmals «umarmt» die andere Figur unsere und beginnt eine Art Tanz, während wir versuchen, durch die Tür zurück in die Disco zu fliehen. Diese ist jedoch verschlossen.
Immer wieder schreibt der User dann, ob wir nicht «smashen» wollen und ob wir «zu dritt» etwas haben wollen. Wir melden auch diesen Vorfall und als unser Avatar endlich aus dem Zimmer freikommt, biegen wir ab und stehen plötzlich in einem weiteren Zimmer, wo noch viel schockierendere Dinge vorgehen.
Mehrere Figuren liegen rhythmisch tanzend im Bett. In den Chat-Blasen sind eindeutige Botschaften zu lesen: «🍆🍆🍆💦💦💦», sowie vom Gegenüber: «🥵🥵🥵». Als die Userinnen und User unsere Figur bemerken, stoppen sie nicht etwa ihre Tätigkeiten, sondern kommentieren: «Ein richtig junges Mädchen! Willst du mitmachen?» – Wieder wird unser Avatar huckepack genommen und zur Gruppe getragen, wo alle mit ihr interagieren. Wir melden die User und verlassen das Spiel – verstört.
Dass die Jagd auf junge Mädchen bei einigen Usern zu einem perfiden Sport geworden ist, zeigen Chatnachrichten in Telegram-Kanälen, welche man mit wenigen Klicks in der Suche findet: Ein mutmasslich 26-jähriger Mann sucht nach Mädchen für «Roblox-Abenteuer» und bietet dafür Robux als Einkommen an. In weiteren Chats werden Accountnamen und besondere Räume erwähnt, in denen es viele weibliche Userinnen geben soll.
Dass Amy und wir keine Einzelfälle sind, zeigt eine Nachfrage beim St.Galler Kinderschutzzentrum: «Hier kennt man Formate wie Roblox leider zu gut», sagt Anna Mähr, Expertin für Kinderschutz und Prävention. Man habe immer wieder mit Kindern und Eltern zu tun, die von verstörenden Erlebnissen berichten. Die Plattform sei heute bei so ziemlich allen Kindern bekannt, sagt Mähr und ergänzt: «Die Spiele sind nicht primär das Problem, sondern der unkontrollierte Kontakt zu fremden Erwachsenen.»
Der fehlende Jugendschutz sei eines der Hauptprobleme der Plattform: «Überall, wo Erwachsene anonym mit Kindern in Kontakt treten können, entstehen Risiken. Da ist Vorsicht von den Eltern gefragt sowie politischer Mut, solche Plattformen für die Sicherheit von Kindern verantwortlich zu machen», sagt Mähr. Es sei die Dosis, die das Gift mache. Kinder seien nach Erlebnissen darauf angewiesen, dass sie sich ihren Eltern anvertrauen und einen Ausgleich finden können.
Die Expertinnen und Experten der Fachstelle beraten regelmässig Betroffene: «Das Zusammenarbeiten von Kindern und Eltern ist matchentscheidend», sagt Mähr.
Je jünger die Kinder sind, desto weniger können sie sich vorstellen, dass Menschen schlechte Absichten verfolgen können. «Genau das machen sich Cybergroomer zunutze. Cybergroomer sind Erwachsene, die gezielt online das Vertrauen von Kindern oder Jugendlichen gewinnen, um sexuelle Kontakte anzubahnen», erklärt Mähr. Kinder würden perfide manipuliert, unter Druck gesetzt und bedroht. Die Online-Welt greife schmerzhaft in das reale Leben der Kinder ein, sagt die Expertin. Mähr fügt an:
Die von uns erlebten Vorkommnisse decken sich auch mit einer kürzlich publizierten Untersuchung der Internet-Forschungsorganisation Revealing Reality mit Sitz in London. Die gänzlich fehlenden Schutzvorkehrungen und Alterskontrollen seien höchst alarmierend, schreibt die Organisation. Roblox ist unter anderem aus diesem Grund in mehreren Ländern verboten. So hat etwa die Türkei die Plattform analysiert und den Zugang landesweit untersagt:
In einem Beitrag auf der Plattform X begründete der türkische Justizminister Yılmaz Tunç den Entscheid: «Unser Staat ist verpflichtet, die notwendigen Massnahmen zu ergreifen, um den Schutz unserer Kinder gemäss unserer Verfassung zu gewährleisten.» In der Europäischen Union werden derzeit Massnahmen geprüft.
Und wie sieht es in der Schweiz aus? Seit dem 1. Januar 2025 gilt in der Schweiz das neue Bundesgesetz über den Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele (JSFVG) sowie die dazugehörige Verordnung (JSFVV). Diese Gesetze verlangen einen klaren Schutz von Minderjährigen. Die Spiele bei Roblox verstossen so ziemlich gegen alle Paragrafen des neuen Gesetzes. Bund und Kantone sind für die Einhaltung der Auflagen zuständig. Es können Tests durchgeführt werden. Bei Verstössen sind Bussen bis zu 40'000 Franken vorgesehen.