Am Freitag schaut die ganze Schweiz nach Dietikon. Der Grund: Ab 8.30 Uhr wird dort die Verhandlung gegen «Carlos» geführt, den wohl berühmtesten Ex-Jugendstraftäter der Schweiz. Juristisch gesehen, ist der Fall nicht sonderlich komplex, wie Bezirksgerichtspräsident Stephan Aeschbacher bestätigt: «Doch in Bezug auf das öffentliche Interesse ist es der grösste Fall, den das Bezirksgericht behandelt, seit es 2008 seine Arbeit in Dietikon aufgenommen hat.»
Die Verhandlung ist daher für das Gericht eine echte Herausforderung – zumindest organisatorisch: Laut Aeschbacher werden so viele Medienvertreter und Zuschauer erwartet, dass nicht alle auf den 20 Sitzplätzen im Gerichtssaal Platz finden werden. «Wir haben daher einen zweiten Raum mit weiteren 20 Plätzen freigehalten, in dem die Verhandlung live übertragen wird», erklärt der Bezirksgerichtspräsident. Um die nötige Sicherheit zu gewährleisten und die Zugangskontrolle durchzuführen, hat das Gericht zudem die Kantonspolizei angefordert.
Angeklagt ist «Carlos», wie der nun 19-jährige Straftäter genannt wird, der mehrfachen Sachbeschädigung während seiner Haft im Massnahmenzentrum Uitikon (MZU), der Drohung gegen einen Mann an der Langstrasse sowie der anschliessenden Hinderung einer Amtshandlung – er rannte vor der Polizei davon, die ihn laut Anklageschrift mehrfach schreiend aufforderte, anzuhalten. Der Staatsanwalt fordert eine unbedingte Freiheitsstrafe von elf Monaten sowie eine unbedingte Geldstrafe von 450 Franken. Erstere soll zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgeschoben werden. Eigentlich geht es am Freitag in Dietikon also um einen relativ unspektakulären Fall – wäre da nicht der Medienrummel vom Sommer 2013 um das «Sondersetting» des jungen Mannes gewesen.
Der in Frankreich geborene damals 17-Jährige war wegen eines Dokumentarfilms des Schweizer Fernsehens SRF in die Schlagzeilen geraten. Darin präsentierte der damalige Zürcher Jugendanwalt Hansueli Gürber den «Fall» des äusserst schwierigen Jugendlichen als Beispiel dafür, dass eine gezielte Ausnahme-Behandlung Erfolg haben kann. Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung, befand «Carlos» sich bereits mehr als 12 Monate in einem sogenannten «Sondersetting», rundum betreut und überwacht. Und zum ersten Mal schien eine Massnahme zu greifen.
Doch nach der Ausstrahlung der Sendung empörten sich die Medien und die Öffentlichkeit. Kritisiert wurden insbesondere die hohen Kosten von rund 29'000 Franken pro Monat. Es kam zu politischen Interventionen. «Carlos» wurde in die geschlossene Abteilung des Uitiker Massnahmenzentrums gesperrt – zu seinem Schutz, wie es hiess. Es folgten mehrere Urteile auf Obergerichts- und Bundesgerichtsebene, ein weiteres, günstigeres «Sondersetting» und schliesslich der Abbruch der Spezialbetreuung im Juni 2014. Fünf Monate später wurde der damals 19-Jährige schliesslich erneut inhaftiert: Der Privatkläger im aktuellen Verfahren hatte ihn wegen der Drohung im Rahmen der Auseinandersetzung an der Langstrasse angezeigt.
Die frühesten Tatbestände, die «Carlos» vorgeworfen werden – die Sachbeschädigungen im MZU vom Januar 2014 –, fallen ins Hoheitsgebiet des Dietiker Bezirksgerichts. Deshalb liegt es an ihm, das Urteil zu fällen und dafür zu sorgen, dass die zahlreichen Journalisten und Zuschauer die Verhandlung mitverfolgen können.
Über Sinn oder Unsinn solcher Massnahmen bei einem medial ohnehin aufgebauschten Fall will Aeschbacher sich nicht äussern: «Aus Sicht des Gerichts ist es nicht von Belang, ob das Interesse an einem Fall gerechtfertigt ist. Unser Auftrag ist es, der Öffentlichkeit im Rahmen des betrieblich Möglichen den Zutritt zu gewährleisten.» Ein Ausschluss der Öffentlichkeit ist nur bei Verhandlungen gegen Jugendstraftäter gesetzlich vorgeschrieben. Im Erwachsenenstrafrecht kann in Ausnahmefällen – wie etwa bei Sexualstraftaten – von der Geschädigtenvertretung darum ersucht werden. Da «Carlos» die ihm vorgeworfenen Straftaten jedoch bereits als Erwachsener begangen haben soll, wird er nun erstmals nicht mehr nach dem Jugendstrafrecht beurteilt. Das Gericht ist also verpflichtet, Medien und Zuschauern Zugang zum Gerichtssaal zu gewähren.