Am 25. September stimmt die Schweiz über insgesamt vier Vorlagen ab. Dies entschied der Bundesrat Ende Mai mit einem Beschluss, der üblicherweise nicht für Furore sorgt.
Diesmal war es aber anders: Ein Genfer Bürger entschied sich zwei Tage danach zu einem ungewöhnlichen Schritt. Er legte beim Genfer Regierungsrat (offiziell «Staatsrat» genannt) eine Beschwerde ein, mit der er nichts weniger erreichen wollte als die Verhinderung des Urnengangs. Im Visier seiner Stimmrechtsbeschwerde waren die beiden Vorlagen zur AHV-Reform: Die eine will die Mehrwertsteuer erhöhen, die andere erhöht unter anderem das Rentenalter der Frauen auf 65.
Um wen es sich bei diesem «Genfer Bürger» handelt, ist nicht bekannt. Weder die Bundeskanzlei noch das Bundesgericht (wo die Beschwerde derzeit hängig ist) wollten sich inhaltlich äussern. watson erhielt aber während einer Recherche einen Einblick in die Argumente des Beschwerdeführers.
Die haben es in sich. So kritisiert der Genfer, dass die Abstimmung über die AHV-Reform seine Grundrechte verletzen würde: «Der Urnengang verstösst gegen die Abstimmungsfreiheit und den Grundsatz der Einheit der Materie.»
Mit anderen Worten: Er wirft den politischen Verantwortungsträgern vor, das Volk mit dem Urnengang zu nötigen. Die Kritik baut er auf die Tatsache auf, dass beide Vorlagen miteinander gekoppelt wurden: Wird eine der beiden Abstimmungsfragen abgelehnt, so scheitert die ganze Reform.
In der Beschwerde stützt er sich auf die Bundesverfassung, welche freie Meinungsbildung bei Abstimmungsvorlagen schützt. Diese Volksrechte verbieten deshalb, dass ein und dieselbe Volksinitiative mehrere Themen gleichzeitig neu regeln will. Mit dem Gebot der «Einheit der Materie» soll garantiert werden, dass Bürgerinnen und Bürger sich besser zu Abstimmungsfragen äussern können.
Der Genfer Staatsrat hat – wenig überraschend – die Beschwerde abgewiesen. Nicht etwa, weil der Bürger seine Argumente scheinbar wahllos mit Bundesverfassungsartikeln begründete (er argumentierte mit den Artikeln 5, 35, 36 und 194). Der Regierungsrat lieferte stattdessen detaillierte Begründungen, Ausführungen zur Rechtssprechung, wieso er eigentlich gar nicht zuständig für solche Beschwerden sei.
Konkret: Der Staatsrat erklärte auf acht Seiten, wieso er sich zur Beschwerde äussern muss (zusammengefasst: weil die Beschwerde von einem Genfer Bürger kam) und sich gleichzeitig nicht inhaltlich zur Beschwerde äussern darf.
Die Beschwerde landete daraufhin bei der Bundeskanzlei, damit sich diese auch noch zur Sache äussert. Diese zögerte nicht lange, weil die Genfer Exekutive das meiste schon begründet hatte, und erklärte kurz und knapp: Beschlüsse des Bundesrates und der Bundesversammlung werden vom Bundesgericht nicht beurteilt. Das Fazit der Bundeskanzlei war deshalb abschliessend: «Die Beschwerde ist offensichtlich unzulässig.»
Das hohe Gericht in Lausanne wird sich trotzdem – so sieht es der Rechtsstaat vor – demnächst zur Beschwerde äussern müssen. Das Gerichtsdossier mit der Nummer 1C_378/2022 wurde intern auf Verlangen von Gerichtsberichterstattern sogar als «medienwirksamer Fall» klassifiziert.
Die Moral der Geschichte? Der Beschwerdeführer hatte von Anfang an keine Chance. Hätte er nicht so schnell in der Bundesverfassung geblättert, wäre er selbst auf den Artikel 189 gestossen. Dieser regelt (auch auf Französisch), worüber das Bundesgericht urteilen darf.
Was aus der Recherche sonst noch bleibt? Der Kanton Genf gilt (so erzählt man sich das in der eidgenössischen Politsphäre) mit seinen Bürgerinnen und Bürgern als besonders beschwerdefreudig. Ein grosser Teil, wenn nicht sogar die Hälfte aller Beschwerden gegen eidgenössische Abstimmungsvorlagen soll aus der internationalen Stadt am Lac Léman kommen.
Gäbe es da eine zuständige Stelle, bzw. Behörde?
Oder haben wir einfach ein Gesetz, dessen Einhaltung gar nicht eingeklagt werden kann?
Wirkt auf mich, wie eine perfide Art der Rechtsverweigerung. Recht ist eben relativ. Und Recht haben und Recht bekommen sind zwei Paar Schuhe.