Die Journalistin Anuschka Roshani hat am Freitag in einem Gastbeitrag im Spiegel berichtet, wie sie beim «Magazin» – der Samstagsbeilage der Tamedia-Zeitungen – «Opfer eines Machtmissbrauchs» wurde. Sie war dort von 2002 bis 2022 Redaktorin. Die Vorwürfe richten sich hauptsächlich gegen ihren langjährigen Chef Finn Canonica. Er leitete die Redaktion des «Magazins» von 2007 bis 2022 und bestreitet die Vorwürfe vehement.
In den sozialen Medien erhielt die Autorin viel Zuspruch, auch von anderen Journalistinnen und Journalisten. Der Tenor: Sie habe Mut, Recht und verdiene Respekt. Doch wo war diese Unterstützung davor?
Eine Journalistin der «ZEIT» schrieb auf Twitter: «Was in der Branche viele wussten, kommt endlich ans Licht.» Im Tweet teilte sie eine Recherche ihrer Kollegin, die selbst lange bei der Tamedia arbeitete. Diese schreibt, dass der Führungsstil von Canonica in der Branche bekannt gewesen sei. Bereits in den Jahren 2014 und 2017 habe das Branchenmagazin «Schweizer Journalist» über das «unerträgliche Klima der Angst» in der Redaktion vom «Magazin» berichtet.
Niemand weiss besser, wie wichtig es ist, Zeuginnen und Zeugen zu finden, damit Missstände benannt und – im besten Fall – behoben werden können, als Journalistinnen und Journalisten.
Es ist unser Tagesgeschäft: Wir suchen Betroffene, sprechen ihnen Mut zu, wenn sie zweifeln, sagen, wie wichtig es ist, dass sie ihre Story öffentlich erzählen und es unter echtem Namen tun, und lassen nicht locker. Wir tun es, weil wir an die Wirkung der vierten Gewalt glauben.
Hätten wir in einem anderen Fall solche Hinweise bekommen, hätten wir wohl direkt losrecherchiert. Betrifft es aber unser eigenes Berufsfeld, bleiben «viele in der Branche» still. Warum? Haben wir Angst, dass es auf uns zurückfallen könnte?
Spätestens seit 78 Redaktorinnen sich vor zwei Jahren in einem offenen Brief an die Geschäftsleitung und Chefredaktion über das Arbeitsklima in den Redaktionen von Tamedia beschwerten, wissen wir, dass Canonica kein Einzelfall ist.
Im Schreiben stand, Frauen würden bei der Tamedia «ausgebremst, zurechtgewiesen oder eingeschüchtert». «Sie werden in Sitzungen abgeklemmt, kommen weniger zu Wort, ihre Vorschläge werden nicht ernst genommen oder lächerlich gemacht.» Zudem würden Frauen weniger gefördert und schlechter entlohnt.
In einer internen Mail, die watson vorliegt, schrieb die Personalkommission der Tamedia am Montag: «Der Bericht im ‹Spiegel› hat auf der Redaktion viele Reaktionen ausgelöst – und Fragen aufgeworfen, die im Zusammenhang mit diesem Fall stehen, aber auch solche, die darüber hinausgehen.» Damals wie heute scheint es im Betrieb ein Bewusstsein zu geben, dass das Ganze weiter greift.
Doch das, was die 78 Redaktorinnen in ihrem Brief beschrieben haben, betrifft nicht nur die Tamedia. 2019 führte eine Journalistin, die den Brief ebenfalls unterschrieben hat, eine Umfrage zu Sexismus in der Schweizer Medienbranche durch. Diese ergab, dass Journalistinnen, verglichen mit anderen Berufen, besonders stark von Übergriffen betroffen sind.
Seit mindestens vier Jahren muss uns Medienschaffenden also bewusst sein, dass es «auch bei uns» strukturellen Sexismus gibt. Doch was ist seither wirklich passiert?
Und – wichtiger – was passiert jetzt? Welche Unternehmen – ausser der Tamedia – haben den Fall zum Anlass genommen, ihre Mitarbeitenden zu ermutigen, Mobbing zu melden? Welche Angestellten haben ihre Sozialisation, ihre Scham, ihr Schweigen hinterfragt?
Welche Führungspersonen haben sich folgende Fragen gestellt: Habe ich meine Mitarbeitenden immer für voll genommen und ihnen empathisch zugehört? Habe ich sie in Schutz genommen oder den Druck von oben an sie weitergegeben, statt ihn zu filtern? Welche Meinung war mir bezüglich meines Führungsstils wichtiger: die meiner Chefs oder die meines Teams?
All das schadet nie. Wir müssen aufhören, uns rauszunehmen und anfangen, uns kritisch zu reflektieren. Das gilt nicht nur für die Medienbranche, aber sie wird hier als Beispiel aufgeführt.
2020 veröffentlichte das «Magazin» die «Magglingen-Protokolle», in denen acht Frauen von jahrelangen Erniedrigungen und Einschüchterungen im Leistungszentrum des Schweizerischen Turnverbands erzählten. Die preisgekrönte Recherche sorgte dafür, dass der Bund eine unabhängige Meldestelle einrichtete und die Vorfälle extern aufarbeiten liess. Auch Entlassungen folgten.
Journalismus wirkt. Das wissen wir alle.
Aber wer kritischen Journalismus macht, muss auch kritisch nach innen schauen. Die Einzigen, die das offenbar gemacht haben, sind die Frauen, die sich gewehrt und recherchiert haben. Einige von ihnen haben die Tamedia mittlerweile verlassen oder werden es bald tun.
Für Aufarbeitungen ist es noch nicht zu spät. Allen voran muss die Frage beantwortet werden, wie das, was Roshani beschrieben hat, offenbar jahrelang vor sich gehen konnte.
Was ist wirklich passiert? Wer hat’s gewusst? Wer hat’s geduldet? Warum? Und gibt es noch andere Fälle? Offene Fragen gibt es genug.
Wir Journalistinnen und Journalisten dürfen das nicht aussitzen. Nicht schon wieder.
Was es braucht, ist eine unabhängige Beschwerdestelle, welche jede und jeden belangen kann, unabhängig seiner Position. Auch der oberste Chef muss wissen, dass er seinen Frust oder seine Gelüste nicht einfach ohne schmerzhafte Folgen ausleben kann.
Nur so werden die Machos sich zu Anstand zwingen.
Dieser Umstand erhöht auch den Druck, nicht aufzubegehren.