Die SVP hat am
letzten Sonntag das beste Wahlergebnis einer Partei seit Einführung
der Proporzwahl im Jahr 1919 erzielt. Grund genug, sich Fragen zur
Zukunft der Schweiz zu stellen. In den Medien aber dominiert ein
Thema: Macht sie weiter oder tritt sie zurück?
Bundesrätin Eveline
Widmer-Schlumpf referierte am Mittwoch über schärfere Regeln für
Grossbanken. Ein Thema, das für die Schweiz mit
ihrem überdimensionierten Finanzsektor sehr wichtig ist. Was aber
taten die Journalisten? Sie versuchten Widmer-Schlumpf mit allerlei
Tricks ein Wort zu ihrer Zukunft zu entlocken – obwohl der
Bundesratssprecher zu Beginn klipp und klar gesagt hatte, die
Finanzministerin werde dazu nichts sagen.
Unberechtigt ist die
Frage nicht. In unserem System haben Regierungsvertreter ein
grösseres Gewicht als in anderen Ländern. Trotzdem wähnte man sich
im falschen Film. Die Fixierung der Medien auf Personen hat ein
absurdes Ausmass angenommen. Die Debatte über grosse Sachthemen
lassen wir uns durch die Tagesaktualität diktieren. Vertiefte
Reflexionen sind selten geworden. Man muss das mit einem gewissen
Mass an Selbstkritik feststellen.
Ansätze gäbe es, etwa den immer grösseren Gegensatz zwischen Stadt und Land,
der bei diesen Wahlen so deutlich wie nie zu Tage getreten ist. In
Basel-Stadt kam es entgegen dem landesweiten Trend zu einem
Linksrutsch. Die Nationalräte von CVP und FDP wurden ersetzt durch
eine linksgrüne Seconda und einen liberalen Regierungsrat, der nicht
als Rechtsausleger bekannt ist. In Zürich legten nicht nur FDP und
SVP zu, sondern auch die SP, was in der glanzvollen Wahl von Daniel
Jositsch gleich im ersten Wahlgang in den Ständerat gipfelte.
Es ist die Folge
einer Entmischung, die in den 1990er Jahren begann, als die Zentren
als A-Städte verrufen waren, als Sammelbecken für Problemfälle wie
Arme, Arbeitslose oder Ausgesteuerte. Viele bürgerliche und
konservative Städter zogen aufs Land, auf der Suche nach günstigem
Wohneigentum und einer heilen Welt. Gleichzeitig entdeckten
Progressive und «Kreative» den Reiz des Stadtlebens. Heute sind
die Städte keine Problemzonen mehr, ausser bei den Wohnkosten. Sie
sind zu Epizentren einer blühenden multikulturellen Urbanität
geworden.
In den ländlichen
Gebieten vor allem der Deutschschweiz aber dominiert die SVP auf
zunehmend erdrückende Weise. Die gleiche Entwicklung ist in der
Zwischenwelt namens Agglomeration zu beobachten, wo die SVP bei
diesen Wahlen besonders stark zulegen konnte. Wo weder Stadt noch
Land ist, sondern ein Zersiedelungsbrei, sehnen sich die Menschen
nach der Idylle.
Wir werden uns
deswegen nicht die Köpfe einschlagen. Wir haben in der Schweiz die
Kunst des Aneinandervorbeilebens schon lange kultiviert, besonders
zwischen den Sprachregionen. Die Spannungen aber werden zunehmen, je
mehr wir uns nur noch unter Gleichgesinnten tummeln.
Ein spannender Stoff
für die Medien, doch mehr als punktuell beleuchten sie dieses Thema
kaum. «Schweizerische Medien? Muss man sich um sie Sorgen machen?
Man muss nicht, aber man sollte vielleicht.» Zu diesem Befund kam
der Schriftsteller Lukas Bärfuss in seinem in der «Frankfurter
Allgemeinen Zeitung» (FAZ) erschienen Essay «Die Schweiz ist des
Wahnsinns». In einem wilden Rundumschlag kotzte Bärfuss seinen
Frust aus über den Zustand der Nation.
So treffend sein
Befund in einzelnen Punkten sein mag, man denkt wehmütig an jene
Zeiten, in denen die Intellektuellen noch etwas zu sagen hatten.
Heute sprechen nur noch wenige Klartext, etwa Charles Lewinsky. Die
meisten scheuen politische Themen wie der Vampir das Sonnenlicht aus
Angst, in dem kleinen Markt (Deutsch-)Schweiz «Kunden» zu
verlieren.
Entsprechend schwach
sind die meisten Reaktionen auf Bärfuss' Wutrede. Das betrifft nicht
zuletzt die direkte Replik von Neo-Nationalrat Roger Köppel in der
FAZ. Sie enthält den aus der «Weltwoche» hinlänglich bekannten
Anti-EU-Sermon und gipfelt in einer denkwürdigen Behauptung: «Die
wählerstärkste Partei der Schweiz, die SVP, gehört nicht in die
Nazi-Ecke, sondern ist solide verwurzelt im freiheitlichen
Rechtsstaat seit 1848.»
Will Köppel mit
diesem Schmarren die Deutschen für dumm verkaufen? Oder glaubt er
daran? Man befürchtet Letzteres.
Wenn eine Partei
immer weniger auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit steht, dann die
SVP. Man kann die problematischen Abstimmungsvorlagen kaum aufzählen,
die sie unterstützt, mitgetragen oder lanciert hat. Den Tiefpunkt
bildet die Volksinitiative «Schweizer Recht
statt fremde Richter». Um ihren rechten Rand bei Laune zu halten,
lanciert die SVP immer radikalere Vorstösse. Gleichzeitig huldigt
sie einem Volksabsolutismus, der Mehrheitsentscheide verherrlicht und
die Mechanismen des demokratischen Rechtsstaats verachtet.
Der Zürcher
Historiker Raphael Gross, der noch bis Ende Jahr das Jüdische Museum
in Frankfurt leitet, brachte es in einem brillanten Text –
ebenfalls in der FAZ – auf den Punkt: Das Modell der direkten
Demokratie habe sich in den vergangenen Jahren «durch eine trübe
Verquickung von intransparenter Parteien- und Medienfinanzierung
sukzessive von einem liberal bis eher konservativ rechtsstaatlichen
in ein aggressiv populistisches verwandelt».
Schuld daran sind
nicht zuletzt die anderen Parteien. Sie haben sich aus Angst vor dem
Volkszorn den Kopf vor dem aggressiven SVP-Populismus eingezogen, sei
es bei der Minarett-, der Ausschaffungs- oder zuletzt der
Masseneinwanderungsinitiative. Gerade bei diesem Thema war das
Versagen akut. Das Unbehagen über die starke Zuwanderung der letzten
Jahre hatte weite Teile der Bevölkerung erfasst, doch Politik und
Wirtschaft ignorierten es oder redeten es klein.
Hätten sie es ernst
genommen, der 9. Februar 2014 wäre längst eine Fussnote in der
Geschichte. Stattdessen haben wir nun den Salat, die Schweiz muss
irgendwie versuchen, die bilateralen Verträge mit der EU zu retten.
An Bekenntnissen dazu fehlt es nicht, doch was sind sie wert, wenn
Christoph Blocher seine Kampfmaschinerie anlaufen lässt? Eine erste
Bewährungsprobe folgt bereits am 28. Februar 2016, wenn die
SVP-Durchsetzungsinitiative zur Abstimmung kommt. Ebenfalls nächstes
Jahr dürfte über das von der SVP bekämpfte Asylgesetz abgestimmt
werden.
Werden die anderen
Parteien die Lehren ziehen und konsequent dagegen halten?
Zweifel sind angebracht, nicht zuletzt wegen der Flüchtlingskrise in
Europa, die wesentlich zum SVP-Wahlerfolg beigetragen hat. Dabei wird
die SVP nur stärker, je weniger man ihr Widerstand leistet. Nicht
mit Empörung – die hat ihr immer nur geholfen –, sondern mit
Entschlossenheit und starken Argumenten. Wer den Kopf nicht einzieht,
wird beachtet.
Die Stärke der SVP
basiert eben zu einem nicht geringen Teil auf der Schwäche ihrer
Gegner. Dabei haben 70 Prozent der Teilnehmer an den Wahlen eine
andere Partei gewählt. Lukas Bärfuss bezeichnet in seinem Essay die
Schweiz als «Volk von Zwergen». Wir sind tatsächlich Zwerge,
nicht weil wir uns klein machen, sondern wegen fehlendem Rückgrat.
Aussichtslos ist die
Lage dennoch nicht. Das Radikalinski-Gebaren der SVP hat die
Zivilgesellschaft wach gerüttelt. Neue Initiativen und Gruppierungen
sind entstanden, oft von jungen Leuten, die sich für eine offene und rechtsstaatliche
Schweiz einsetzen. Sie heissen Operation Libero oder Schutzfaktor M
und sind nicht bereit, der SVP das Feld weiterhin kampflos zu
überlassen.
Der 18. Oktober 2015
war ein Tiefschlag, aber noch ist die Schweiz nicht verloren.
Es ist NICHT der Mut zum Widerstand der fehlt... sondern, und jetzt aufgepasst...
der Mut, heisse Eisen anzupacken, sprich; diese Dinge die das Volk wirklich beschäftigt.