Valentin Lustigs Malerei erinnert manchmal an Henri Rousseau, aber naiv wäre wohl das unpassendste Wort überhaupt, mit dem man seine Werke beschreiben könnte. Sie sind gefährlich, verwirrend, unecht und gleichzeitig auf eine sehr rührende und entlarvende Art menschlich. Naiv ist allein der Betrachter: Mit kindlicher Neugier will man in seine Welt eintauchen, versucht den Ausdruck eines Gesichtes zu lesen, bleibt am Hintergrund haften, wo nackte Engel sich über einem Türrahmen küssen. Oder ist das etwa gar kein Türrahmen? Ist es bloss eine Theaterkulisse? Und warum wirkt der alte graue Mann so verloren?
Eigentlich gibt es auch nichts Unpassenderes als ein Online-Newsportal, das über einen Maler berichten will, der fähig ist, die Zeit zu besiegen. Valentin Lustigs Bildern haftet etwas Dauerndes an, etwas Bleibendes. Und wir, die wir der Schnelligkeit verpflichtet sind, versuchen jetzt einfach mal, diesen zeitlosen Geist, der in dem Maler und seinen Bildern lebt, einzufangen.
Valentin Lustig sitzt in seinem Stuhl und während er redet, rutscht er immer ein bisschen weiter die Sitzfläche hinab. Mitsamt seinem Bauch, in dem sich seine ganze Daseinsfreude gesammelt zu haben scheint. Er zündet sich eine Pfeife an und beginnt zu erzählen, von seiner Jugend im rumänischen Klausenburg (heutiges Cluj) unter Ceaușescu. Nicht aber, bevor er mir klipp und klar gesagt hat, dass sich vor dessen dramatischer Erschiessung eigentlich rein gar niemand für diesen «hässlichen Halbanalphabeten» interessiert habe.
«Im Jahr 1982 kam ich in die Schweiz. Ich sprach manchmal mit linken Ideologen, im Milieu der Bewegten versuchte ich die Geschichten über Ceaușescu zu verbeiten: ‹Du bist viel zu gross für so ein kleines Land›, hatte seine Gattin zu ihm gesagt. Also musste sich das rumänische Volk vermehren. Mussolini und seine Medaillen für die Frauen, die mehr als fünf kleine Italiener zeugten, waren ein Witz. Er war ein Amateur verglichen mit Ceaușescu. Auf Anraten seiner Lady Macbeth hat Rumäniens Oberhaupt also in den Fabriken monatlich gynäkologische Untersuchungen durchgeführt: ‹Und hast du Erfolg, treibst aber ab, dann ist das ein Diebstahl an meinem Sklavenbestand›. So sprach das ‹Genie der Karpaten›.
Und das passierte fünf Zentimeter östlich der Schweiz. Ich erzählte es hier herum, doch niemand hörte mir zu. Alle liefen herum mit T-Shirts von Che Guevara. Che war viel sexier mit seiner Zigarre. Bis heute wird der Schweizer Fotograf René Burri verherrlicht, der ihn derart abgelichtet hat. Ihn, die Ikone. Die Legende. Gut. Und ich kannte halt Ceaușescu.
Der Wortschatz der Kommunisten aber war identisch. In Rumänien, in Italien, in der Schweiz. Damit hab' ich ein Problem gehabt. Der metaphysische Urheber allen Unheils dieser Welt war für alle der Kapitalismus. Alle schrien sie nach diesem neuen Staat, in dem es kein Privatbesitz mehr geben soll und glaubten, dann herrsche der Himmel auf Erden. Ich kam aus einem Land, in dem diese Parolen erfüllt wurden und es war die Hölle.»
Valentin Lustigs Vater war Kommunist, aber ein Kommunist der ersten Stunde. Das war lange vor Ceaușescu. Und der Kommunismus schien die einzige Alternative zu Hitler zu sein. Die Lustigs sind Juden und als Valentins vierjährige Schwester einmal von einem Buben aus der Nachbarschaft gefragt wurde, was dann eigentlich ein Jude sei, antwortete sie: «Ein Rumäne ist einer, der rumänisch spricht. Ein Ungare ist einer, der ungarisch spricht. Ein Jude ist einer, der beides, rumänisch und ungarisch, spricht. Und keine Grosseltern hat.»
Mit 19 Jahren emigriert Valentin mit seiner Familie nach Israel.
Während ich gegenüber des bereits sehr tiefgelegten Malers auf dem Stuhl sass, in dem einst die Gesässe von Urs Widmer, immer mal wieder dasjenige von György Dalos und einmal sogar jenes von Elmar Ledergerber thronten, beging ich einen fatalen Fehler. Ich stellte Valentin Lustig die unreflektierte, eigentlich ironisch gemeinte Frage: Warum bist du nicht weltberühmt?
Valentin Lustigs (drastisch verkürzte und sehr ernste) Antwort:
Ich bin ein eifriger Konsument der Medien, ich lese die Erzeugnisse dieser Branche mit unendlichem Genuss. Unlängst habe ich gehört, dass es irgendeine berühmte Preisverleihung gab (Brit Awards), wo Madonna stolperte und auf ihrem Arsch landete. Das wurde von 40'000 Kameras gefilmt. Und da kriegte ich von deiner Branche die weltbewegende Nachricht, dass dieser Fall von Madonna in Zeitlupe auf YouTube, ich weiss nicht, 20 Millionen Mal betrachtet wurde. Zusätzlich war da noch irgendein Höschen, das dieselbe Madonna früher getragen hat und das weiterhin ein paar Zeugnisse trägt von ihrer uralten Menstruation, die sie damals hatte, und das jetzt für Millionen versteigert wurde. Das heisst Berühmtheit. Es ist eine Kategorie, die sich mit der Zeit ändert. Es waren nicht immer die Höschen von Madonna.
Erasmus von Rotterdam hatte das Unglück, in den düsteren Zeiten der Reformationskriege zu leben. Aber wer lebt in Europa schon nicht in düsteren Zeiten. Dieser kluge Mann also sagte, er wäre in der Lage, eine ganze Flotte zu bauen mit dem Holz, das angeblich vom einzig wahren Kreuz stammte, an das der Heiland einst genagelt worden war. Unzählige Schiffe könne er bauen aus diesen Relikten, die die Kreuzzügler als Beute des Heiligen Krieges zurück nach Europa gebracht hatten.
Unsere Welt besteht aus Gegenständen, die durch die maschinelle Vervielfältigungsfähigkeit fürchterlich billig zu produzieren sind. Das ist eigentlich noch schlimmer als zu Zeiten Erasmus'. Das Objekt an sich ist wertlos, aber die Irrationalität der Menschen fügt einen Mehrwert hinzu. Wenn alle an Jesus glauben, dann ist es die Heiligkeit und dann werden Holzstücke verehrt. Ist es Sex, ist es das verkrustete Höschen von Madonna. Was ist Weltberühmtheit?
Breivik ist weltberühmt, weil er 77 Menschen getötet hat. Es gibt ein uraltes Sujet in der Antike: Ein Typ, allein vom Wunsch getrieben, weltberühmt zu werden, zündet den Artemis-Tempel an. Die Stadt Ephesos verhängt ein Nennungsverbot auf seinen Namen, damit ihm diese Genugtuung für immer versagt bleibt. Aber sein Name ist trotzdem aufbewahrt worden. Ich kenne ihn. Aber ich werde ihn nicht preisgeben.
Der Wunsch, als Künstler mit seinem Betrachter in Dialog zu treten, ist natürlich da, er berücksichtigt aber weder Zeit noch Raum. Es sind Begegnungen. Ein Dialog. Ein inniges Zwiegespräch. Das hat nichts mit Massen zu tun. Nichts mit Eitelkeit. Nichts mit der Welt. Meine Malerei ist genauso massentauglich wie Madonnas Höschen, aber die Massentauglichkeit ist eine Kategorie, die sich auf einer anderen Ebene abspielt: Das hat mit Marketing, Massenpsychologie, Hysterie und weiss der Kuckuck was zu tun. Du hättest mich genauso gut fragen können: Wieso hast du kein Selbstmordattentat verübt? Warum hast du den Louvre nicht angezündet? Warum hast du nicht menstruiert? Weltberühmtheit ist eine Kategorie, die nichts mit der Produktion von Kunst an sich zu tun hat.
Die Zeit ist in diesem kleinen Atelier an der Zürcher Langstrasse nicht wirklich von Bedeutung. Sie ist einfach da, obwohl sie ständig davonrinnt, und dazwischen schieben sich ein paar Gläser Weisswein. Es ist zwei Uhr morgens, als mir Valentin Lustig seine Neuschöpfungen zeigt. Wir starren sie lange still an. Es bleibt einem nichts anderes übrig, man muss diese unheimlich lebendige, zweidimensionale Welt einfach anstarren. Und zwar solange, bis sie einem etwas zuflüstert.
Gestarrt wird auch auf den Bildern selbst. Einmal in die innere Seite und das andere Mal auf diese zwei komischen Monster, die da des Weges kommen. Und natürlich hat Valentin Lustig für den Topos des Betrachtens eine Geschichte parat. Eine Horrorgeschichte sogar.
Eines Tages wanderte er mit seiner lieben Gattin Kathrin auf die Felsenegg. Diesem berühmten Planetenweg entlang schlenderten die beiden, um dort im gleichnamigen Gasthaus bei einem Kafi Fertig die Touristen zu betrachten, wie sie ihrerseits den erhabenen Ausblick betrachten. So wie man es als Betrachter von Caspar David Friedrichs Rückenfigur tut.
Friedrich hat dieses Motiv in unzähligen Bildern ausgeschlachtet: Der Mensch, wie er im Rücken Gottes, das heisst vor seiner erhabenen Schöpfung steht. Er darf die Vorderseite des Allmächtigen nicht sehen. Der Anblick würde ihn umbringen. So wie Semele, die Mutter von Dionysos, die sich von Zeus wünschte, ihn in seiner wahren Gestalt zu sehen. Als Liebesbeweis. Sie sah ihn, den gewaltigen Himmelsblitz, und verbrannte auf der Stelle.
Auch der Mensch darf sich nicht umdrehen, der frontale Blick auf die Göttlichkeit ist verboten. Tut er es doch, verliert er alles. Orpheus seine Eurydike, als er in die Unterwelt hinabsteigt, um seine Braut wieder nach oben zu holen. Er kann ihre Schritte hinter sich nicht mehr hören, und nur ganz kurz will er gucken, ob sie noch da ist. Er dreht sich um und verliert sie für immer.
Mit dieser Überlegung im Kopf schaut Valentin Lustig die Touristen an. Aber er sieht keine Rücken und auch keine Hinterköpfe, die sich über die Schönheit der Natur beugten und auf ein verzücktes Gesicht auf der anderen Seite hingedeutet hätten. Nein. Valentin sieht den Horror. Er sieht den Medusenblick und erstarrt zu Stein: Die Touristen haben sich umgedreht. Sie starren direkt in ihre Handys und machen Selfies. Mit der Erhabenheit als Hintergrund.