Mocktail statt Cocktail, Sport statt Freitagsbier, Schlafen statt Feiern – das holistische Gesundheitsbewusstsein in der Gesellschaft wächst, befeuert durch soziale Netzwerke.
Dies untermauern zahlreiche Studien. Was dabei oft nicht analysiert wird: der Konsum von Alkohol.
Fest steht: Alkoholfreie Getränke schiessen wie Pilze aus dem Boden. Dieses Phänomen ist auch bei veganen Ersatzprodukten, die als gesund beworben und wahrgenommen werden, zu beobachten. Dennoch sinkt die Nachfrage nach tierischen Produkten nicht.
Wie sieht es also beim Konsum von Alkohol aus? Dienen alkoholfreie Getränke tatsächlich als Ersatz oder werden die Alternativen bloss zusätzlich konsumiert?
Seit Beginn der 2000er sinkt der Pro-Kopf-Konsum von Alkohol in der Schweiz kontinuierlich. Dennoch trinkt jede fünfte Person in der Schweiz regelmässig zu viel oder zu oft. Jede zwanzigste Person trinkt chronisch risikoreich, was mit einem mittleren bis hohen Gesundheitsrisiko in Zusammenhang steht. In der Schweiz leiden rund 250'000 Menschen unter einer Abhängigkeit.
Der Alkoholkonsum habe sich teils verringert, teils aber auch stark erhöht, sagt Regine Rust, Geschäftsleiterin Stiftung Suchthilfe. «Das Gesundheitsbewusstsein in der Gesellschaft steigt, die Menschen sind im Zuge der Digitalisierung immer informierter und können ihr Wissen schneller verbreiten. Das macht sich auch beim Konsum von Alkohol bemerkbar.» Gerade jüngere Menschen würden sich mehr mit dem Thema Gesundheit auseinandersetzen. Ein bewussterer Alkoholkonsum gehe Hand in Hand mit der Selbstoptimierung.
«Wie gehe ich mit dem eigenen Körper um? Wie bin ich leistungsfähiger? Wie kann ich Kalorien sparen? – Fragen wie diese haben zunehmend an Bedeutung gewonnen.»
Regine Rust beobachtet das Phänomen zum bewussteren Alkoholkonsum schon lange. Der Trend unter den jüngeren Menschen habe sich bereits im Jahr 2010 abgezeichnet, nach einer Zunahme akuter Alkoholvergiftungen unter Jugendlichen.
2010 sind innerhalb eines Jahres 27'000 Personen laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) aufgrund einer Alkoholvergiftung in einem Schweizer Spital behandelt worden. 2022 hat sich die Anzahl der Spitaleinweisungen fast verdoppelt: 53'000 Personen landeten aufgrund von übermässigem Konsum im Krankenhaus. Trendenz steigend.
Neben dem Trend zum bewussteren Trinken habe sich gleichzeitig die Tendenz zum exzessiven Alkoholkonsum verstärkt. «Ziel einiger Jugendlichen ist es, ganz hoch alkoholisiert zu sein. Die trinken dann so viel, das kann man sich gar nicht vorstellen.»
Alkohol dominiert die Arbeit der Suchtberatungsstellen vor allen anderen psychoaktiven Substanzen. Der hohe Leistungsdruck der Gesellschaft verstärke heute den risikoreichen Alkoholkonsum, sagt Sven Anders, Geschäftsleiter der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS).
Vom übermässigen Konsum seien aber nicht nur junge Menschen betroffen. Für ältere Menschen bedeute der missbräuchliche Konsum eine Möglichkeit, mit herausfordernden Veränderungen der Lebensumstände umzugehen, beispielsweise nach der Pensionierung oder dem Verlust der Partnerin oder von Freunden. Rund fünf Prozent der Bevölkerung trinken laut BAG chronisch risikoreich, das heisst Frau trinkt mehr als zwei und Mann mehr als vier Standardgläser pro Tag. Diese Tendenz ist seit 2018 unverändert.
Unter Jugendlichen breite sich zunehmend ein neues, besorgniserregendes Phänomen aus: Alkohol in Kombination mit Medikamenten. Experimentiert werde häufig mit codeinhaltigen Hustenmitteln wie Bexin sowie mit rezeptpflichtigen Schlaf- und Beruhigungsmitteln, vor allem mit Benzodiazepinen wie Xanax und opioidhaltigen Schmerzmitteln wie Tramal.
Wie gelangen Jugendliche überhaupt so einfach an rezeptpflichtige Medikamente? «Konsumiert werden vielfach Medikamente, die sich in der Hausapotheke befinden. Leicht an Medikamente kommen Jugendliche aber auch über gefälschte Rezepte, das Internet und den lokalen Schwarzmarkt», so der Suchtpräventionsexperte.
Häufig seien sich die Jugendlichen der Gefahren des Mischkonsums nicht bewusst. Sie schätzten Medikamente als sicher ein im Vergleich zu anderen illegalen Substanzen. In der Schweiz sind seit 2018 mindestens 35 Jugendliche gestorben – mutmasslich, weil sie Medikamente in Kombination mit Alkohol eingenommen haben. Dabei handelt es sich nur um Fälle, über die medial berichtet wurde. Wenn nach der Einnahme starke Übelkeit und Erbrechen auftreten, besteht das Risiko, am Erbrochenen zu ersticken, erklärt Anders. Ausserdem besteht durch sich verstärkende Wirkungseffekte des Mischkonsums das Risiko, dass ein Atemstillstand mit Todesfolge eintritt.
Einen Einfluss, so vermutet der Suchtpräventionsexperte, haben vor allem gewisse Musikszenen: «Insbesondere Rapper verherrlichen oder propagieren gar explizit den Konsum von Alkohol in Kombination mit Medikamenten.» Aber auch die sozialen Medien tragen dazu bei, dass der Mischkonsum sowie das Rauschtrinken an Popularität gewinnen.
Diese Entwicklung stehe im Zusammenhang mit den zunehmenden psychischen Problemen bei Jugendlichen. «Viele konsumieren psychoaktive Substanzen als Bewältigungsstrategie, um Probleme und Krisen zumindest für einen kurzen Moment zu vergessen», so Anders. Er betont, dass es für belastete Kinder und Jugendliche noch immer viel zu wenig Therapieplätze gebe. Und wer seine Probleme mit Suchtmitteln betäube, der lande schnell in einer Abhängigkeit.
Vielfach wird der Alkohol auch komplett durch andere psychoaktive Substanzen ersetzt, sagt Regine Rust. Einige Jugendliche würden sich durch den Konsum von Drogen in Tablettenform als «reinere» Substanz sicherer im Konsum fühlen – ein Trugschluss.
Bei Erwachsenen stellt die Expertin fest, dass der Gendergap immer kleiner wird. Früher haben vor allem Männer zu viel getrunken. Mit der Emanzipation und dem heutigen Leistungsdruck habe sich dies verändert. Insbesondere erfolgreiche Frauen, die in ihrem Beruf sehr diszipliniert sind, neigen zur Sucht, so Rust.
Allgemein spüre man, dass sich die Menschen mehr Gedanken zu ihrem Alkoholkonsum machen, manchmal bewusst auf Alkohol verzichten und vermehrt auch mal auf alkoholfreie Getränke ausweichen. Die Akzeptanz in der Gesellschaft gegenüber Mocktails und Co. steige. All dies bedeute aber noch lange nicht, dass sich das Konsumverhalten verbessert hat.
Im Gegenteil: Es erscheint im neuen Gewand.