Nie kam die Schweizer Asylpolitik einem Agenten-Thriller so nah wie am 11. Januar 1988. In den frühen Morgenstunden tauchte am Winterhimmel über dem jurassischen Weiler Les Ecorcheresses plötzlich ein Polizeihelikopter auf. Vor dem Bauernhof der Familie Burkhalter standen 20 uniformierte Beamte und verlangten Einlass ins Haus. Ihr Ziel: die Zwei-Zimmer-Wohnung im Dachgeschoss, seit knapp zehn Monaten die heimliche Heimat des kongolesischen Philosophen Mathieu Musey, seiner Frau und seiner drei Kinder.
«Filmreif» sei die Verhaftung des «berühmtesten Asylanten der Schweiz» an jenem Montagmorgen gewesen, schrieb der «Blick» tags darauf. Die Polizei liess Musey zwei Stunden Zeit, seine sieben Sachen zu packen. Dann flog man die Familie auf den Militärflugplatz in Payerne und von da mit polizeilicher Begleitung in einem Privatjet direkt nach Kinshasa, der Hauptstadt der damals noch als Zaire bekannten Demokratischen Republik Kongo.
Die Ausschaffung versetzte die politische Schweiz wochenlang in Aufruhr, die Zeitungen waren voll mit Anschuldigungen gegen die harschen Behörden und die leichtgläubigen Flüchtlingsorganisationen. 50 Nationalrätinnen und Nationalräte forderten eine Parlamentarische Untersuchungskommission (es wäre erst die zweite PUK in der Geschichte des Landes gewesen), um das vermeintlich unrechtmässige Handeln von Bundesrätin und Justizministerin Elisabeth Kopp und ihrem Departement zu durchleuchten.
Der Zürcher Historiker Jonathan Pärli, der sich intensiv mit der Schweizer Asylgeschichte auseinandergesetzt hat, bezeichnet die Affäre Musey als «Höhepunkt einer seit den frühen 1980er Jahren geführten Auseinandersetzung rund um die Asylpolitik zwischen der ‹offiziellen› und der ‹anderen› Schweiz». Kein anderer Fall habe die Wogen zwischen den Bundesbehörden und den Pro-Asyl-Organisationen in der Schweiz derart hochgehen lassen. Mitte Februar nun ist Mathieu Musey in seiner Heimat Kinshasa 80-jährig verstorben – noch bevor die helvetischen Richter den Kampf um sein politisches Erben entschieden haben.
Doch der Reihe nach: Mathieu Musey hatte vor seiner Ausschaffung fast 18 Jahre lang in der Schweiz gelebt. 1970 kam er nach seinem Theologie- und Philosophiestudium in Italien ins Land und doktorierte an der Universität Freiburg mit einer Arbeit über den Ethnologen Claude Lévi-Strauss. Ab 1975 arbeitete er als Dozent an der Uni Bern und begann mit seiner Habilitation über griechische Philosophie. Gleichzeitig nahm er eine Stelle an der staatlichen Universität in seiner Heimat Zaire an. Der Philosoph pendelte zwischen seinen beiden Heimaten, bis er Anfang der 1980er Jahre seine Stelle in Zaire verlor; angeblich, weil er als Oppositioneller beim Regime des Langzeitherrschers Mobutu Sese Seko in Ungnade fiel.
In den Jahren danach bewarb sich Musey erfolglos um Asyl in der Schweiz. Nachdem er alle rechtlichen Rekursmöglichkeiten ausgeschöpft hatte, tauchte er im Februar 1987 mit Hilfe von Bekannten aus der Asylbewegung unter. Die Burkhalters in Les Ecorcheresses, tiefgläubige Mennoniten, nahmen die kongolesische Familie «aus religiösen Gründen» auf, wie sie einem Reporter erzählten. Schliesslich seien sie selbst einst als religiöse Flüchtlinge vor den Berner Obrigkeiten geflüchtet und hätten in den einsamen Weiten des Jura Zuflucht gefunden.
Das Zusammenleben mit der meistgesuchten Familie der Schweiz funktionierte prima: Mathieu Musey schrieb an einem Buch, veröffentlichte Video-Botschaften zu seinem Fall und melkte Kühe.
Musey habe – so einer der Vorwürfe des Bundes – seinem Asylgesuch gefälschte Dokumente beigelegt. Die Haftbefehle, die in Zaire gegen ihn hängig seien, könnten gar nicht echt sein, argumentierte das Justizdepartement. Eine der Begründungen lautete, dass die Anschrift Museys in der Schweiz orthografisch korrekt geschrieben sei – was ganz klar darauf hindeute, dass der Haftbefehl nicht von Beamten in Zaire ausgestellt worden sein könne.
Nach einem knappen Jahr flog das Versteck auf. Die Ausschaffung der Familie – eine von mehr als 500 vorgenommenen Ausschaffungen im Jahr 1987 – löste in der Schweiz heftige Reaktionen aus. Flüchtlingsorganisationen monierten, man wolle an Musey ein Exempel statuieren, um zu zeigen, dass die Schweiz nach schwierigen Jahren noch immer handlungsfähig sei beim Thema Rückschaffungen.
Die Regierung des eben erst unabhängig gewordenen Kantons Jura sah ihre Souveränität verletzt, weil der Bund dem Chef der jurassischen Fremdenpolizei rechtswidrig Anweisungen erteilt habe. Der Bundesrat hingegen sprach von einem von der Asylbewegung zu Propagandazwecken benutzten «Test-case». Vor allem aber wurde die politische Forderung laut nach einer klaren Trennung zwischen dem Justizdepartement und der Beschwerdeinstanz in Asylrechtsfragen. Zwei Jahre später wurde sie durch die Schaffung der inzwischen ins Bundesverwaltungsgericht integrierten Asylrekurskommission umgesetzt.
Ohne die von heftigen Protesten begleitete Ausschaffung Museys wäre es kaum so rasch zu der «Gewaltentrennung im Asylrecht» gekommen, sagt der Historiker Jonathan Pärli, der kurz vor Museys Tod noch mit ihm in Kontakt stand. Pärli betont:
Es sei möglich, dass die «Affäre Musey» und die ans Licht gekommene ruppige Gangart des Justizdepartements in Asylfragen letztlich sogar der damaligen Justizministerin Elisabeth Kopp – der ersten Frau im Bundesrat – hätte gefährlich werden können, wenn Kopp wegen der Affäre um die Steuerhinterziehungsvorwürfe gegen ihren Mann nicht sowieso im Dezember 1988 zurückgetreten wäre.
Nun ist Mathieu Musey gestorben, doch sein «Fall» ist noch immer ungeklärt. War es ein aufgebauschter «Testcase», wie es der Bundesrat darstellte? Oder doch ein Symbol für die vor nichts mehr zurückschreckende Asylverweigerungspolitik des Bundes, wie die Asylbewegung monierte? Die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments hielt 1989 in ihrem Bericht fest, sie habe «die umstrittensten Sachverhalte nicht mit letzter Gründlichkeit ermitteln» können.
Neue Antworten könnte jetzt die Forschung hervorbringen. Historiker Pärli jedenfalls bemüht sich seit Jahren auf juristischem Weg um Zugang zu der im Bundesarchiv lagernden «Akte Musey» – bisher erfolglos. «Viele umstrittene Fragen konnten bis heute nie abschliessend geklärt werden: etwa, ob die Ausschaffung der Familie Musey wirklich legal war, oder ob die Schweiz dem brutalen Mobutu-Regime bereitwillig einen politischen Flüchtling ans Messer geliefert hatte», sagt Pärli.
Das Hauptargument der Behörden lautet: Die Familie Musey müsse vor allfälliger Verfolgung geschützt werden, die ihr drohe, wenn Informationen aus ihren Asylakten publik würden. «Historisch ironisch», kommentiert Pärli. Schliesslich zeigte sich der Schweizer Staat einst sehr überzeugt, dass Mathieu Musey und seine Angehörigen problemlos in ihr Heimatland zurückkehren könnten. Bald entscheidet das Bundesgericht, ob der Tod des Hauptprotagonisten es erlaubt, die Akten für die Forschung freizugeben. Bis dahin bleibt die ganze Wahrheit über einen der mysteriösesten Fälle der Schweizer Asylgeschichte weiter im Dunkeln.
P. S. Ich hätte es begrüsst, wenn im Artikel auch geschildert worden wäre, wie es der Familie nach der Ausschaffung ergangen ist.