Ihn will die Ortsbürgergemeinde Baden einfach nicht einbürgern – das ist der Grund
Eine parallel zum Staat existierende Organisation, die politische Entscheidungen ohne grosses Aufsehen beeinflussen kann? Der nur eine Handvoll Bürgerinnen und Bürger mit vorwiegend angeborenen Privilegien angehören? Was klingt wie eine Verschwörungstheorie, ist in vielen Gemeinden der Schweiz eine Realität: Ortsbürgergemeinden, auch Burgergemeinden oder Ortsgemeinden genannt.
Der Badener Grossrat und GLP-Politiker Gian von Planta geht seit Jahren gegen die Ortsbürgergemeinden vor. Zuletzt, indem er versuchte, selbst ein Ortsbürger zu werden. Wobei er scheiterte. Zwei Mal hintereinander. Zuletzt diesen Montag.
Ein Drama in fünf Akten.
Prolog
Die Geschichte beginnt lange vor Gian von Plantas Geburt. Ja, in einer Zeit, in der Napoleon Bonaparte noch lebt. Im 18. Jahrhundert.
Damals organisieren sich die Menschen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz kleinteilig in Bürgergemeinden. In diesen Bürgergemeinden haben nur wohlhabende Männer ein Stimmrecht. Damit entscheiden sie allein über Massnahmen und Projekte für das Allgemeinwohl – beispielsweise über Infrastruktur, Bildungseinrichtungen oder Hilfsangebote für Arme. Doch 1798 droht dieses System zu erodieren. Mit dem Einfall von französischen Truppen in der Schweiz.
Die Parolen der französischen Revolution von «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit» lassen sich nicht mit einem politischen System vereinbaren, in dem nur Reiche das Sagen haben. Neu sollen alle (Männer, versteht sich) ein Stimmrecht erhalten.
Es gibt nur ein Problem: Würden die Revolutionäre die Gemeinden neu organisieren, müssten sie die Wohlhabenden enteignen, da diese den Grossteil des öffentlich genutzten Bodens und der Infrastruktur besitzen. Enteignung ist den Revolutionären jedoch zuwider, wie der St.Galler Stadtarchivar Marcel Mayer in einem Interview mit SRF erzählt. Also kommt man auf eine andere Lösung: eine Ortsbürgergemeinde, die parallel zur Einwohnergemeinde existiert.
In der Ortsbürgergemeinde behalten die Wohlhabenden ihr Bürgergut – etwa Wälder, Immobilien, Alpen. Damit besitzen sie eine wichtige Entscheidungsmacht innerhalb der Ortschaften. Wollen die Gemeinden etwa eine Schule bauen, sind sie vom Goodwill der Ortsbürgergemeinden abhängig. Die politischen Gemeinden besitzen zu diesem Zeitpunkt noch keinen Boden und auch kaum Geld. Den Ortsbürgergemeinden ist es deshalb zu verdanken, dass beispielsweise in der Stadt St.Gallen Museen und die heutige Kantonsbibliothek entstehen können.
Doch aufgrund von wirtschaftlicher Entwicklungen verlieren die Ortsgemeinden nach und nach an Besitz und Macht.
1. Akt: Die Provokation
Heute sind die glorreichen Zeiten der Ortsbürgergemeinden vorbei. Und zwar schon so lange, dass viele Schweizerinnen und Schweizer gar nicht mehr wissen, dass es Ortsbürgergemeinden noch gibt. Gemäss der Burgergemeinde Langenthal gar in vierzehn Kantonen: Aargau, Basel-Landschaft, Basel-Stadt, Bern, Graubünden, Jura, Obwalden, Solothurn, St.Gallen, Tessin, Thurgau, Uri, Wallis, Zug.
Ihren politischen Einfluss haben sie jedoch spätestens im Jahr 2000 verloren. So heisst es zumindest offiziell. 2022 wagt es der Aargauer GLP-Politiker Gian von Planta jedoch, diesem Narrativ zu widersprechen. Indem er im Badener Grossrat eine parlamentarische Anfrage einreicht. In dieser fordert er: Die Ortsbürgergemeinde von Baden soll mit der Einwohnergemeinde fusionieren.
Von Plantas Argument: Ortsbürgergemeinden hätten nach wie vor politische Entscheidungsmacht, weil sie viel Land besitzen. «Eine breite demokratische Legitimierung fehlt jedoch komplett.» Durch die Ortsbürgergemeinden herrsche ein Zweiklassensystem. Zu den Privilegierten gehöre, wer an den Ortsbürgerversammlungen teilnehmen dürfe. Dann dürfe man entscheiden, wie das Geld aus dem Ortsbürgervermögen genutzt werden solle. Dabei handle es sich um Vermögen, das ursprünglich allen Einwohnerinnen und Einwohnern Badens gehört habe.
Mit dieser Kritik zieht von Planta den Unmut der Ortsbürgerinnen und Ortsbürger auf sich. Die Badener Ortsbürgergemeinde hält auf ihrer Website dagegen, dass sie viel Gutes für die Bevölkerung tue. Die Einnahmen, welche die Ortsbürgergemeinde beispielsweise durch die Vergabe von Baurecht auf ihrem Grund erwirtschafte, würden Kultur und sozialen Projekten in der Stadt zugutekommen.
Von Plantas Anfrage im Badener Grossrat generiert nicht mehr als ein kurzes Aufsehen. Damit scheint der «Fall» für die Ortsbürgerinnen und Ortsbürger abgeschlossen zu sein. Nicht aber für von Planta.
2. Akt: Die Bewerbung
Zwei Jahre lang gärt es in von Planta. Dann kommt ihm eine neue Idee: Wer das System nicht von aussen ändern kann, muss es von innen beeinflussen.
2024 bewirbt sich von Planta zusammen mit seiner Frau und den beiden Töchtern für das Bürgerrecht in der Badener Ortsbürgergemeinde. Deren Aufnahmekriterien erfüllt er: Seit 2014 wohnt er in Baden, besitzt das Badener Bürgerrecht, ist nie schwerwiegend mit dem Strafgesetz in Konflikt geraten, ist nie betrieben worden und ist gut in Baden integriert.
Am 17. Juni 2024 versammeln sich 119 der 628 stimmberechtigten Ortsbürgerinnen und Ortsbürger im Waldgasthaus Baldegg. So viele wie noch nie.
Der Grund dürfte von Planta sein, der kurz zuvor im Badener Tagblatt abermals seine Kritik am Konzept der Ortsbürgergemeinden übte. Ein kluger Schachzug, hat er sich doch zum Ziel gesetzt, das Thema in der ganzen Schweiz aufs politische Tapet zu bringen.
Stefan Bräm, Präsident der Finanzkommission der Ortsbürgergemeinde, spricht den Stimmberechtigten deshalb ins Gewissen:
Doch die Ortsbürgerinnen und Ortsbürger sind hässig. Einer von ihnen tobt ins Mikrofon: «Wie kann man so arrogant sein, die Ortsbürgergemeinde abschaffen zu wollen und später Mitglied in dieser Ortsbürgergemeinschaft werden zu wollen? Wenn wir ihn heute in die Ortsbürgergemeinde aufnehmen, kann er als Mitglied jederzeit die Auflösung der Gemeinde traktandieren lassen.»
Bei einer Auflösung würde ihr Vermögen an die Einwohnergemeinde gehen. Das wäre falsch. Denn: «Ich bin der Meinung, dass die Einwohnergemeinde bereit dazu ist, das ganze Geld mit beiden Händen aus dem Fenster zu werfen. Das tönt brutal, meine Damen und Herren. Man muss aber nicht weiter darüber nachdenken, wenn man bedenkt, wie hoch die Schulden der Stadt Baden sind und wie hoch das Vermögen der Ortsbürgergemeinde ist.»
Die Meinungen sind gemacht. Die Stimmzettel werden verteilt. Die Ortsbürgerinnen und Ortsbürger stimmen ab: Zehn Personen, die sich beworben haben, gewähren sie das Bürgerrecht. Nur einer nicht: Gian von Planta. Mit 32 Ja- zu 79 Nein-Stimmen.
Das hat es in der Geschichte der Badener Ortsbürgergemeinde noch nie gegeben.
3. Akt: Regierung interveniert
Gian von Planta sieht sich seiner Bürgerrechte beraubt. Deshalb erhebt er beim Aargauer Regierungsrat Beschwerde. Im Winter 2024 gibt ihm der Regierungsrat recht.
Die Ortsbürgergemeinde habe «unhaltbar und willkürlich» entschieden, schreibt der Regierungsrat. Und hält fest: Im Sommer 2025 müsse die Ortsbürgerversammlung erneut über seine Einbürgerung abstimmen.
Doch im Sommer stimmt die Versammlung nicht über von Planta ab. Weil der frühere FDP-Einwohnerrat und Badener Ortsbürger Mark Füllemann wiederum Beschwerde gegen den Entscheid des Regierungsrats erhebt. Beim Verwaltungsgericht.
4. Akt: Zweiter Versuch
Auf Füllemanns Beschwerde geht das Verwaltungsgericht nicht ein. Vor allem deshalb nicht, weil Füllemann nicht beschwerdeberechtigt ist. Im Badener Tagblatt denkt Füllemann zunächst über einen Gang bis ans Bundesgericht nach. Tut es dann aber doch nicht.
Stattdessen steht Füllemann wenige Monate später, am Abend des 1. Dezember 2025, vor 171 von 646 Ortsbürgerinnen und Ortsbürgern – ein neuer Rekord. Zum zweiten Mal steht die Abstimmung über Gian von Planta an.
Über diesen sagt Füllemann:
Gleichzeitig empfiehlt er den Anwesenden, den Wahlzettel leer einzuwerfen. «Damit vermitteln wir Gian von Planta eine Botschaft: Wir sagen deutlich, dass wir es nicht schätzen, dass ihm der politische Anstand fehlt.»
Ausnahmsweise darf von Planta auf die Bühne und sich zu seinem Antrag äussern. Er will Beispiele für den Einfluss der Ortsbürgergemeinden aus Nachbarorten nennen. In Wettingen zum Beispiel hätten Ortsbürger entschieden, ob sich ein grosses internationales Unternehmen in der Gemeinde ansiedeln darf – und nicht die Einwohnergemeinde. Oder in Aarau hätten die Ortsbürger den Bau eines Schulhauses für eine Gesamtschule verhindert, indem sie einen Landtausch mit der Stadt verweigerten. Nicht aus ökonomischen Gründen, sondern weil ihnen das Konzept einer Gesamtschule nicht gepasst habe.
In seiner Argumentation kommt von Planta jedoch gemäss Badener Tagblatt nicht weit. Der Stadtammann weist ihn an, sich kurz zu halten. Dann geht es ans Abstimmen.
Um 21.36 Uhr, nach dem Auszählen der Stimmen, das Déja-Vu: Die Ortsbürgerinnen und Ortsbürger nehmen alle Gesuche an – ausser jenes von Gian von Planta. Mit 104 Nein- zu 46 Ja-Stimmen und 19 Enthaltungen.
Das hat es in der Geschichte der Badener Ortsbürgergemeinde erst recht noch nie gegeben.
5. Akt: Sieg trotz Scheiterns
watson erreicht Gian von Planta am Tag nach seiner zweiten Niederlage. Er nimmt sie gefasst auf:
Hat das Drama damit sein Ende gefunden? Nein.
Von Planta will erneut Beschwerde einreichen. Bis es dann endlich klappt mit der Einbürgerung? «Jein. Inzwischen geht es mir nicht mehr darum, eingebürgert zu werden, sondern darum, dass ein kritischer Diskurs über die Ortsbürgergemeinden entsteht.» Dass er, als kritische Stimme, nicht willkommen sei, unterstütze seine Ansicht, dass die Ortsbürgergemeinden abgeschafft gehörten. «Eine Demokratie lebt von Auseinandersetzungen und verschiedenen Meinungen.»
Zum Schluss ist nur eines sicher: Mit diesem Fünfakter hat von Planta die Ortsbürgergemeinden für ein breites Publikum auf die Bühne gebracht. Vielleicht reicht seine Energie ja noch für mehr. Schliesslich schrieb auch Goethe seinen «Faust» in zwei Teilen.
