In den letzten Minuten vor der Versammlung der Boniswiler Ortsbürger steigt bei Gemeindeschreiber Rudolf Holliger jeweils leicht der Puls. Es tauchen kaum noch Ortsbürger auf und das Risiko ist gross, dass irgendwann gar niemand kommt. «Ich habe keine Ahnung, was dann zu tun ist», sagt Holliger. «Zum Glück ist das noch nie passiert.»
Mit einem blauen Auge davongekommen war der Gemeindeschreiber Ende 2010: Ein einziger Ortsbürger genehmigte damals zügig Rechnung und Protokoll.
Versammlungen vor fast leeren Rängen soll es in der Gemeinde am Hallwilersee nicht mehr geben. Boniswil möchte die Ortsbürgergemeinde auflösen. Denn wer hier Ortsbürger ist, hat kaum Vorteile: Die Ortsbürgergemeinde besitzt wenig Wald; die Waldhütte ist das einzige nennenswerte Eigentum. «Nach Vorabklärungen waren die Ortsbürger an der letzten Versammlung einverstanden, das nächste Mal die Auflösung zu traktandieren», sagt Holliger. Anwesend waren damals zwei Ortsbürger.
Am 27. Mai werden deshalb die Ortsbürger abstimmen, ob ihre Gemeinde aufgelöst und das kleine Vermögen der Einwohnergemeinde übertragen werden soll. Bei einem Ja stimmt die Einwohnergemeinde später ebenfalls darüber ab. Der endgültige Entscheid wird danach an der Urne gefällt.
Boniswil ist kein Einzelfall. Viele Ortsbürgergemeinden sind unbedeutend geworden. Teile der Bevölkerung wissen nicht mehr, was diese tun. Die Zeiten, als Ortsbürger die armengenössigen Mitbürger unterstützten, sind längst vorbei. Der früher verteilte «Bürgernutzen», oft in Form von Holz, wurde Ende der 1970er-Jahre abgeschafft.
Viele Ortsbürgergemeinden haben nur noch eine Aufgabe: die Verwaltung des eigenen Vermögens, vor allem des Waldes. Zwei Drittel der Aargauer Waldflächen gehören den Ortsbürgergemeinden. Seit der Jahrtausendwende haben sich im Aargau neun Ortsbürgergemeinden mit der Einwohnergemeinde zusammengeschlossen, unter anderem in Holderbank.
Dort kam noch jeder zehnte der rund 60 stimmberechtigen Ortsbürger zur Versammlung. Weiter reduziert hat sich die Zahl der Ortsbürgergemeinden durch Gemeindefusionen. Derzeit gibt es im Aargau noch 187 Ortsbürgergemeinden, die 213 Einwohnergemeinden gegenüberstehen.
Sind die Ortsbürgergemeinden ein Auslaufmodell? «Nein», sagt Thomas Busslinger, Präsident des kantonalen Ortsbürgerverbandes. «Die Bandbreite zwischen Gemeinden, die grosse Probleme haben, und jenen, die sehr reich sind, ist aber gross.» Wer nur Wald besitzt, verliert laut Busslinger wegen des tiefen Holzpreises Geld. «Gravierender ist jedoch, dass die Zahl der Ortsbürger generell abnimmt.»
Das zeigt ein Blick in die Statistik: Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist der Anteil der Ortsbürger in den vergangenen dreissig Jahren von 20 auf 9 Prozent zurückgegangen. Immer mehr Schweizer wohnen nicht mehr in ihrer Heimatgemeinde. Das schlägt sich auch in der Zusammensetzung der Gemeinderäte nieder, welche die Ortsbürgergemeinde führen. «Weil viele Gemeinderäte keine Ortsbürger sind, fehlt oft die Identifikation», sagt Thomas Busslinger, «und manchmal auch das Interesse, etwas in der Ortsbürgergemeinde zu bewegen.»
Es gibt auch Gemeinderäte, die sich für ihre Ortsbürgergemeinde stark engagieren. Der Gemeinderat von Schmiedrued ging 2013 auf die Suche nach neuen Ortsbürgern und pries im Dorfblatt die Vorteile an: Ortsbürger können das Waldhaus der Ortsbürgergemeinde günstig mieten. Aber vor allem: «Sie helfen mit, die Institution Ortsbürgergemeinde zu stärken.» Die Aktion brachte immerhin fünf neue Ortsbürger.
Den Ortsbürgern, die mit Problemen kämpfen, stehen reiche Gemeinden gegenüber, die nebst Wald auch Immobilien, Land und Kieswerke besitzen. Der Aarauer Ortsbürgergemeinde gehören unter anderem die Wohnzeile D in der Telli mit 135 Wohnungen und der Landwirtschaftsbetrieb Binzenhof. Vermögend ist auch die Ortsbürgergemeinde Lenzburg, die nebst Wald einen Rebberg sowie Liegenschaften und Grundstücke besitzt; unter anderem das Zeughausareal, das in der künftigen Stadtentwicklung eine wichtige Rolle spielen dürfte.
Mit diesem Vermögen bzw. den Erträgen daraus tun die Ortsbürgergemeinden viel Gutes, wobei der Kanton die gesetzlichen Rahmenbedingungen vorgibt. Die Aarauer Ortsbürger unterstützen unter anderem den Wildpark Roggenhausen, das Forum Schlossplatz, finanzieren bezahlbaren Wohnraum (zum Beispiel in der «Aarenau») sowie die Neujahresblätter. Letztere liegen auch in Lenzburg in den Händen der Ortsbürger, die ebenfalls das Brauchtum fördern und sich für die Allgemeinheit engagieren.
Die Lenzburger Ortsbürgergemeinde hat den Esterliturm ermöglicht und 2014 der Stadt zum 50-Jahr-Jubiläum des Kieswerks einen Lift für den Alten Gemeindesaal geschenkt. Den Ortsbürgern gehört auch das Museum Burghalde. «Vermögende Ortsbürgergemeinden haben die wichtige Aufgabe, sich für die Kultur einzusetzen», sagt der Lenzburger Ortsbürger-Stadtrat Martin Stücheli. «Wird eine Ortsbürgergemeinde aufgelöst, bleiben solche Dinge auf der Strecke.»
Eine von Steuergeldern finanzierte Einwohnergemeinde habe nicht das Geld, sich so zu engagieren. «Es ist deshalb wichtig, dass man – wenn möglich – Ortsbürgergemeinden am Leben erhält und nicht leichtfertig aufgibt.» Es gehe hier auch um Traditionen und Emotionen.
Letzteres musste der Gemeinderat Oberentfelden erfahren. 1999 wollte er die Ortsbürgergemeinde abschaffen, weil die Rechnung zehn Jahre lang defizitär gewesen war. Der Antrag hatte nicht den Hauch einer Chance, zu gross war der Aufstand in der Bevölkerung. Die Narben sind noch heute nicht vollständig verheilt. «Es gibt immer noch Ortsbürger, die die Verantwortlichen von damals nicht mehr grüssen», sagt Gemeindeammann Markus Werder.
Die Ortsbürgergemeinde wegen des grossen Aufwandes für die Verwaltung abzuschaffen, sei zwar immer wieder ein Thema. «Aber keines, worüber wir ernsthaft nachdenken. Das Thema ist zu emotionsgeladen.»