Vor 12 Jahren veränderte sich das Leben von Gert-Jan für immer. Bei einem Verkehrsunfall erlitt er eine Rückenmarksverletzung und ist seither querschnittgelähmt.
Doch jetzt die Sensation: Dank Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kann er heute wieder laufen. Der Niederländer ist der erste Mensch überhaupt, der mithilfe einer «digitalen Brücke» wieder selbstständig gehen lernte.
Die Rückenmarksverletzung hat die Kommunikation zwischen Gehirn und dem Bereich des Rückenmarks unterbrochen, welcher für das Gehen zuständig ist. Das führte zu einer Lähmung. «Hier haben wir diese Kommunikation mit einer ‹digitalen Brücke› zwischen Gehirn und Rückenmark wiederhergestellt», erzählen die Forschenden dem Magazin «Nature».
Die Forschenden nennen die von ihnen entwickelte «digitale Brücke» Brain-Spine-Interface (BSI), auf Deutsch: Gehirn-Rückenmark-Schnittstelle. «Wir haben eine drahtlose Verbindung geschaffen zwischen Gehirn und Rückenmark, die Gedanken in Bewegungen umwandelt», sagt Grégoire Courtine, Professor an der ETH Lausanne (EPFL), zu «Nature».
Um dies zu ermöglichen, musste Gert-Jan sich einer Operation in Lausanne unterziehen: Ein Team um die Neurochirurgin Jocelyne Bloch implantierte dem 40-Jährigen zwei runde Plättchen mit je 64 Elektroden auf die Gehirnoberfläche. Diese Elektroden «lesen» seine Gedanken – beziehungsweise seine Steuerungsbefehle für die Beinbewegung – und übertragen diese auf einen Helm, der sie wiederum an einen Computer weitergibt. Dieser befindet sich auf einem Rollator, der ihm auch als Gehilfe dient. Der Computer kommuniziert dann mit einem weiteren Plättchen mit Elektroden, das auf dem Rückenmark im Lendenbereich des Patienten ist.
Vom Gedanken bis zu Bewegung vergehen rund 0,4 bis 0,5 Sekunden.
Wenn Gert-Jan sich nun also vorstellt zu gehen, dann setzen sich seine Beine in Bewegung – noch mithilfe einer Gehhilfe oder Krücken. Auf einer Pressekonferenz berichtet er:
Científicos de @EPFL_en logran que Gert-Jan, un holandés de 40 años que sufrió la parálisis de sus piernas tras un accidente de moto, vuelva a caminar
— SINC (@agencia_sinc) May 24, 2023
Ha sido posible gracias a un puente digital entre el cerebro y la médula espinal 🖌@AnaHernandoDyOhttps://t.co/f34JWVJVkd pic.twitter.com/hTQIzDGcWp
Die Operation fand vor Ende Juli 2021 statt. Nur nach zwei Tagen zeigte sich bei einem ersten virtuellen Test, dass das System funktionierte: Allein aufgrund seiner Gedanken konnte er bei einem Avatar die richtigen Hüft-, Knie- und Fussgelenkbewegungen auslösen. Auch im realen Training lief es gut: «Wir hätten nie gedacht, dass er schon am ersten Tag aufsteht und geht», so Bloch, «aber er schaffte es tatsächlich.»
Innerhalb von zehn Wochen hatte er insgesamt 40 Trainingssessions. «Das Training war hart, ich musste zeitweise richtig kämpfen», sagt Gert-Jan, «aber ich hatte eine gute Zeit hier in Lausanne.»
Das BSI-Training hat offenbar auch die Regeneration des unterbrochenen Nervennetzwerks angeregt. Gert-Jan kann heute sogar ohne Simulation und ohne Krücken ein paar Schritte gehen. «Das war vorher nicht möglich», sagt er.
Nichtsdestotrotz: Es ist noch zu früh, um sich zu freuen. Denn Gert-Jan ist ein spezieller Patient. Einerseits hat er bereits vorher an vielen Versuchen teilgenommen und andererseits ist er ein sehr disziplinierter Mensch. So sei er auch bereit gewesen, sein Leben über lange Zeit dem Training zu widmen, kommentiert Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittgelähmte am Klinikum Bayreuth, gegenüber dem Science Media Center SMC. Ausserdem war Gert-Jans Rückenmark nicht komplett durchtrennt worden, einige Fasern im Rückenmark überlebten die Verletzung.
Doch die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind davon überzeugt, dass die digitale Brücke auch anderen Betroffenen helfen kann – egal, ob die Verletzung frisch ist oder nicht oder ob das Rückenmark komplett oder nur teils verletzt ist.
Es gibt auch kritische Stimmen gegenüber der Studie. Norbert Weidner, ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg, sagt gegenüber SMC:
Aber das Lausanner Team denkt bereits weiter. Eines der Ziele sei es, die Technologie weiterzuentwickeln und zu miniaturisieren. Konkret heisst das: Künftig soll ein Gerät von iPhone-Grösse den heute eingesetzten Laptop ersetzen. «In fünf Jahren sollte die Technologie so weit sein», sagt Bloch. «Ich hoffe das zumindest.»
(oee)