Schwere Verletzungen des Rückenmarks führen oft dazu, dass die Verbindung zwischen dem Gehirn und den in der unteren Wirbelsäule befindlichen Nervenzellen, die das Gehen steuern, unterbrochen wird. Die motorischen, sensiblen und vegetativen Funktionen unterhalb der Unterbrechung können dann teilweise oder vollständig ausfallen, was die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigt: Sie leiden an Lähmungen, Gefühlsverlust und gesundheitlichen Problemen wie mangelnder Blutdruckkontrolle, Inkontinenz und erhöhtem Infektionsrisiko. Eine komplette Querschnittslähmung ist beim heutigen Stand der Medizin irreparabel.
Eine neue experimentelle Therapie, die allerdings nur für einen Teil der Betroffenen geeignet ist, lässt querschnittgelähmte Patienten hoffen: Elektroden-Implantate im Rückenmark aktivieren Rumpf- und Beinmuskeln und ermöglichen es ihnen so, auf Rollatoren gestützt zu gehen. Dies berichtete ein Forschungsteam der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) um Jocelyne Bloch und Grégoire Courtine bereits im Februar dieses Jahres im Fachmagazin «Nature».
Schon seit Längerem war die Stimulation des Rückenmarks durch elektrische Impulse (EES) bei der Behandlung von chronischen Schmerzen angewendet worden, doch Bloch und Courtine hatten das Verfahren auf Querschnittgelähmte übertragen. Bereits 2018 zeigten sie an Patienten, die ihre Beine oder Füsse noch minimal bewegen konnten, dass dies im Grundsatz funktioniert. In der Folge konnten sie ihre Methode verbessern und auch an Patienten erfolgreich testen, die keine Restbeweglichkeit mehr besassen. Auch andere Forschungsteams konnten Lähmungen durch elektrische Stimulation des Rückenmarks unterhalb der Verletzung teilweise rückgängig machen.
Das Team in Lausanne implantierte den Patienten einen Elektrostimulator, der die Dorsalwurzeln stimuliert. Durch diese hinteren Nervenwurzeln gelangen Sinnessignale ins Rückenmark. Die Elektroden, die die elektrischen Impulse abgeben, wurden mit einem Impulsgeber verbunden, der wiederum drahtlos über einen Tabletcomputer angesteuert werden kann. Die Patienten wurden zudem in ein Tragegestell gehängt, damit sich ihre Beine bewegen konnten.
Nach einem intensiven fünfmonatigen Training konnten die Patienten mit einer Gehhilfe wieder eigenständig eine bestimmte Strecke gehen. Dabei blieb jedoch bisher völlig unklar, wie es im Einzelnen zu diesen Fortschritten kam.
Nun haben Bloch und Courtine in einer neuen Studie – die sie im Fachmagazin «Nature» veröffentlicht haben – weitere Erkenntnisse gewonnen. Die Untersuchung der per EES behandelten Patienten und von ebenso behandelten Mäusen ergab, dass der Erfolg der EES-Therapie auf bestimmten Nervenzellen beruht. Mithilfe eines Computeralgorithmus konnten die Forscher diese Neuronen identifizieren, die sich nach Verletzungen des Rückenmarks und Elektrostimulation verändern.
Es handelt sich um eine spezifische Gruppe von sogenannten Interneuronen, die – was bemerkenswert ist – bei gesunden Personen nicht an Bewegungen beteiligt sind. Für das elektrostimulierte Bewegen der Beine nach einer Rückenmarksverletzung sind sie hingegen unabdingbar. Wenn diese Neuronen bei Mäusen vor der Therapie zerstört worden seien, schreiben die Studienautoren, sei die Behandlung erfolglos geblieben.
Es scheint mithin, dass diese Interneuronen, die normalerweise Signale verarbeiten, statt Reize weiterzuleiten, gewissermassen zweckentfremdet wurden: Sie verbanden nun die Neuronen der Muskeln mit Signalen aus dem Gehirn. So konnten die Beine wieder bewusst angesteuert werden.
Die Wissenschaftler erhoffen sich nun, dass ihre Befunde zur weiteren Verbesserung der epiduralen Elektrostimulation beitragen. Trotz der bisher erzielten Erfolge gibt es jedoch auch Bedenken, dass dieses Verfahren «keine baldige Lösung für alle von Querschnittlähmung Betroffenen» sein wird, wie etwa Winfried Mayr vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Meduni Wien gegenüber dem ORF feststellte.
Die Patienten, die solche Fortschritte gemacht hätten, wiesen mit Sicherheit besonders günstige Voraussetzungen auf, die in der Mehrzahl der Fälle nicht gegeben seien, glaubt Mayr. «Im Wesentlichen muss ein geeigneter Teil der willentlichen Bewegungssteuerung durch die Verletzungsstelle hindurch erhalten geblieben sein», erläuterte er. Das «solide wissenschaftliche Ergebnis» solle nicht geschmälert werden, so Mayr, doch es sollten auch keine Erwartungen geweckt werden, «die bis auf Weiteres nicht erfüllbar sein werden». (dhr)