Steigt die Zuwanderung innert Jahresfrist um mehrere zehntausend Personen oder nimmt die Arbeitslosigkeit massiv zu, muss der Bundesrat künftig die Anrufung einer Schutzklausel prüfen. Das hat der Bundesrat am Mittwoch entschieden. Der zuständige Justizminister Beat Jans führt vor den Medien aus: «Mit der Schutzklausel können wir die Zuwanderung regulieren, ohne das Personenfreizügigkeitsabkommen zu verletzen.» Das sei in den neuen Verträgen mit der EU rechtlich abgesichert und darum ein wesentlicher Fortschritt, den die Schweiz in den Verhandlungen erzielt habe.
Das Prinzip ist schnell erklärt: Wenn in der Schweiz aufgrund der Zuwanderung «schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme» auftreten, kann der Bundesrat die Schutzklausel aktivieren.
Löst der Bundesrat die Schutzklausel aus, beantragt er beim Gemischten Ausschuss, in dem die EU und der Bund paritätisch vertreten sind, geeignete Schutzmassnahmen. Kommt das Gremium zu keiner Einigung, entscheidet ein Schiedsgericht beider Seiten. Urteilt dieses im Sinne der Schweiz, darf der Bund Massnahmen ergreifen. Die EU erhält dann jedoch das Recht, verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen im Rahmen der Personenfreizügigkeit zu treffen.
Dann kann der Bundesrat trotzdem eigenständig Schutzmassnahmen ergreifen. Die EU dürfte nun aber ihrerseits ein Schiedsgerichtsverfahren eröffnen und verhältnismässige Ausgleichsmassnahmen auch bei anderen bilateralen Verträgen erlassen – mit Ausnahme der Landwirtschaft.
Bundesrat Jans nannte als Massnahmen bei Aktivierung der Schutzklausel die Festlegung von vorübergehenden Höchstzahlen, wie das bei der Zuwanderung aus Drittstaaten schon gemacht wird. Auch ein Inländervorrang ist vorgesehen. Infrage kommt zudem die Einschränkung des Aufenthaltsrechts bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder eine beschränkte Aufenthaltsdauer für die Stellensuche. Die Schutzmassnahmen können für die gesamte Schweiz oder einzelne Kantone gelten.
Jeder einzelne Kanton soll zudem die Möglichkeit erhalten, beim Bund die Auslösung der Schutzklausel zu beantragen, falls in diesem Kanton schwerwiegende Probleme als Folge der Personenfreizügigkeit vorliegen. Der Bundesrat kann regionale Schutzmassnahmen prüfen.
Vier Faktoren sind entscheidend: Wenn die Nettozuwanderung aus der EU, die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die Zunahme der Arbeitslosigkeit oder der Sozialhilfequote einen bestimmten Wert überschreiten, muss der Bundesrat die Auslösung der Schutzklausel zwingend prüfen. Die präzisen Schwellenwerte sind noch zu definieren und werden per Verordnung bestimmt.
Weil die Schweiz den Handlungsspielraum maximal ausschöpfen will, wie Vincenzo Mascioli, Staatssekretär für Migration, vor den Medien erklärt, kommen weitere Indikatoren dazu: Zuwanderung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherheit, Wohnungswesen und Verkehr.
So kann der Bundesrat bei steigenden Staustunden auf den hiesigen Strassen oder bei sinkendem Bestand an Leerwohnungen ebenfalls Massnahmen gegen die Zuwanderung prüfen. Gegenüber der EU muss die Schweiz im Gemischten Ausschuss aber in jedem Fall geltend machen, dass gravierende wirtschaftliche oder soziale Probleme vorliegen.
Der Bundesrat schlägt zwar beispielhafte Schwellenwerte vor, hat sie aber noch nicht festgelegt. Dabei sucht er einen Mittelweg: Die Anrufung der Schutzklausel soll regelmässig geprüft werden, aber nicht zwingend jedes Jahr zu einer Dauerprüfung führen.
Hätten die vorgeschlagenen Schwellenwerte schon in den letzten 23 Jahren gegolten, hätte der Bundesrat die Anrufung der Schutzklausel achtmal prüfen müssen. 2002, 2003, 2009 und 2020 stieg die Arbeitslosigkeit um mehr als 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 2008 und 2013 war die Nettozuwanderung zu hoch (mehr als 0,74 Prozent), 2011 und 2022 stieg die Zahl der Grenzgänger gemessen an der erwerbstätigen Bevölkerung um über 0,34 Prozent.
Einzig der Schwellenwert der Sozialhilfequote (plus 12 Prozent Sozialhilfebezüger) wurde seit 2002 nie überschritten.
Das Abkommen über die Personenfreizügigkeit enthält schon seit 2002 eine Schutzklausel. «Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen tritt der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammen, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen», heisst es in Artikel 14.2.
Das Problem: Entscheiden konnte nur der Gemischte Ausschuss der EU und der Schweiz. Ohne die Zustimmung Brüssels ging nichts. Mit Verweis auf die im europäischen Vergleich sehr tiefen Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten in der Schweiz stellte sich die EU-Kommission stets auf den Standpunkt, es lägen keine schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Probleme vor. Die Schutzklausel blieb ein Papiertiger.
Die Schweiz hat laut Jans ein neues Instrument, das es der Schweiz erlaubt, die Schutzklausel zu aktivieren und Massnahmen umzusetzen – ohne dabei die bilateralen Verträge zu gefährden.
Zu Beginn der Verhandlungen stellte sich die EU klar gegen eine konkretisierte Schutzklausel, die die Schweiz eigenständig aktivieren kann. Die Unterhändler verwiesen auf Ausnahmen bei der Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie, die sie der Schweiz schon zugestanden hatten. So können weiterhin EU-Bürger des Landes verwiesen werden, wenn sie straffällig werden.
Auch für das Daueraufenthaltsrecht, das in der EU nach fünf Jahren Aufenthalt allen zusteht, ist in der Schweiz beschränkt: Es steht nur Erwerbstätigen zu. Phasen in der Sozialhilfeabhängigkeit von sechs Monaten oder mehr werden in den fünf Jahren nicht angerechnet. So wird die Einwanderung ins Schweizer Sozialsystem unterbunden.
In den Verhandlungen stellte sich Brüssel zunächst auf den Standpunkt, es gebe entweder eine konkretisierte Schutzklausel oder Ausnahmen. Doch der Bundesrat beharrte im Verhandlungsmandat auf beidem – und erhielt beides. Dem Vernehmen nach war es die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die sich nach Gesprächen mit der damaligen Bundespräsidentin Viola Amherd für eine Schweizer Schutzklausel aussprach. (aargauerzeitung.ch)
(*) Das ist kein entweder oder, sondern skalar.
Er muss aber weder entscheiden noch handeln.
Ich kenne jetzt schon die Ausreden: Zu viele Arbeitlose? Leider alles keine Fachkräfte.
Wohnungsnot? Die Privatwirtschaft muss halt mehr bauen.
Alles leeres Gerede.