Armando Briner ist ein fremder Fötzel. Und Tessiner. Armando Briner sagt: «Wer freundlich ist zu den Hagenbuchern, zu dem sind die Hagenbucher freundlich».
Vor knapp einem Monat hat Armando Briner den Sonnenhof im Herzen von Hagenbuch wieder eröffnet. Heute gibt es Gemüsesuppe, gemischten Salat und Fleischkäse mit Spiegelei für 13 Franken. Der Veloclub hat sich für die GV mit grossem Znacht angemeldet. Der Frauenverein kommt auch vorbei. Wenn er so weitermacht, könnte der neue Wirt es schaffen im Dorf. «Es sind gute Leute, die Hagenbucher. Einfache Leute, aber gute Leute», sagt Briner. Aber: «Der Wirt, der macht keine Politik.»
Hagenbuch ist ein Dorf zum Vergessen. Die Grossstadt Zürich ist hier ganz weit weg. Selbst die Zürcher Verkehrsbetriebe haben ihr Netz nie bis in diese hinterste Ecke des Kantons ausgebaut. In Hagenbuch gibt es eine Schule, einen Volg, eine Beiz, ein Architekturbüro, ein Fahrradfachgeschäft, eine Schuhwerkstatt, acht Brunnen und sieben Weiler. Die Fenstersimse sind für Geranien reserviert. In den Gärtchen der Einfamilienhäuser wehen Schweizerfahnen und ein Zigarettenstummel auf der Strasse sticht hier so ins Auge wie der Primetower in der Skyline von Zürich.
Doch auf diesem Fleckchen, eingequetscht zwischen der A1 und der Grenze zum Kanton Thurgau, haben sich die rund 1100 Einwohner von Hagenbuch seit Jahren ein Stück heile Welt bewahrt. Dies ging so lange gut, bis vor etwa drei Jahren die Welt nach Hagenbuch kam – in Gestalt einer Flüchtlingsfamilie aus dem Bürgerkriegsland Eritrea, durch mehrere Durchgangszentren, direkt nach Hagenbuch.
«Das waren unglaublich wilde Kinder», erinnert sich André Cotting. «Kaum zu zähmen. Doch wir hätten es fast geschafft.» André Cotting hatte vor vier Jahren im «Landboten» von dieser Familie gelesen, die verzweifelt eine Wohnung suchte. «Wir haben Platz», dachte er, «wir haben Arbeit», dachte er. Seine Gemeinschaft bot der neunköpfigen Familie eine Wohnung an.
André Cotting wohnt in einem «Dorf im Dorf», in der Yamagishi-Gemeinschaft. Seit 20 Jahren leben die inzwischen noch 10 Leute hier nach dem Vorbild des japanischen Bauern Yamagishi: naturverbunden, einfach, ohne Lohn, ohne Chef und ohne Privatbesitz, finanziert nur durch den Verkauf von eigenen Landwirtschaftsprodukten. «Auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis sind wir», sagt einer bei der Führung auf dem Hof. Er ist der Bauer der Gemeinschaft. Im Dorf unten ist er nicht oft. Es gibt immer noch Leute, die ihn nach all den Jahren lieber nicht grüssen. «Unsere Lehrerinnen haben den Flüchtlingskindern am Anfang Nachhilfe gegeben, die Mutter hätte ein bisschen in der Küche helfen sollen», sagt er. «Doch es zeigte sich bald, dass das Interesse ihrerseits nicht besonders gross war.»
Und dann kamen schon bald die Behörden dazwischen. Wer die Kinder und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Winterthur-Andelfingen angerufen hat, weiss bis heute keiner. Sicher ist, dass die KESB Therese Schläpfers Konzept durcheinander brachte.
Die blonde schlanke Gemeindepräsidentin geht durch Hagenbuch wie ein It-Girl durch New York. Auf dem Weg zu ihrem Chrysler schüttelt die SVP-Gemeindepräsidentin jede Hand, die ihr entgegen gestreckt wird. Goldschmuck ziert ihre Handgelenke und Ohren, eine Lederjacke ihre schmalen Schultern, eine schmucke Handtasche ihren Arm – keine Marken, aber schick.
Therese Schläpfer ist herumgekommen. Sie war auch schon oft in Afrika. Auch in muslimischen Ländern. Als Flight Attendant hat sie im Iran erlebt, was «sich anpassen» heisst, als sie sich ein Kopftuch überzog und anstatt durch die Lobby durch den Personaleingang ins Hotel gelangte. «When in Rome, do as the Romans do», sagt sie. Mehr als 20 Jahre lang flog Schläpfer zuerst mit der Swissair, dann mit der Swiss um die Welt. Das war, bevor sie auf dem Präsidentenstuhl von Hagenbuch landete. Hoch hinaus will sie immer noch. Im Herbst will sie für die SVP in den Nationalrat einziehen.
Ihren Listenplatz hat sie wohl oder übel der KESB zu verdanken. Als es die KESB noch nicht gab, hatte Therese Schläpfer als Sozialvorständin die Betreuung von Problemfällen organisiert. Auch die der neuen kinderreichen Flüchtlingsfamilie aus Eritrea: Zmittag bei den Yamagishi, eine Haushaltshilfe aus dem Dorf, eine Übersetzerin, die die hiesigen Verhältnisse erklärt, hatte sie organisiert.
Doch dann klappte es nicht so recht. Auch in der Schule nicht. Die Kinder störten den Unterricht, machten die Hausaufgaben nicht. Die Schulbehörden beschlossen, drei der sieben Kinder in Schulheime zu schicken. Irgendwann stand die KESB erneut auf der Matte und beschloss die Heimeinweisung eines weiteren Kindes und Familienbegleitung für den Rest. Die Mutter bezieht Sozialhilfe.
«Solidhelp» hiess die Firma, die im Auftrag des Amts für Jugend- und Berufsberatung, abgesegnet von der KESB, die Betreuung der Familie übernahm. «Solidhelp» sprechen viele Hagenbucher aus, als müssten sie spucken. Auf der Homepage der Sozialfirma steht es schwarz auf weiss: 135 Franken pro Stunde für Einzelbetreuung.
Die Hagenbucher können doch rechnen. Ihre Gemeindepräsidentin sowieso. Sowas geht ins Geld. «Als ich nicht gleich einen Job gefunden habe nach der Lehre, habe ich nichts vom Staat erhalten», regt sich eine junge Hagenbucherin auf der Strasse auf. «Diese Leute haben gar nichts und kriegen hier alles», sagt sie, «alles!». Die Gemeindepräsidentin Schläpfer habe es gut gemacht, da geht sie mit den meisten Hagenbuchern einig. Die Gemeindepräsidentin Schläpfer hat sich nämlich ein Herz gefasst.
«Ich wusste von vielen anderen Gemeindepolitikern, die die Faust im Sack machen und diese enormen Kosten schlucken», sagt Therese Schläpfer im grossen Sitzungszimmer im Gemeindehaus. «Mitspracherecht über die Massnahmen hat die Gemeinde seit der KESB keine mehr. Sie wird zur blossen Zahlstelle», sagt sie. Das könne doch nicht sein.
Also gab sie Auskunft, als der NZZ-Journalist im letzten Sommer anrief, und sprach es zum ersten Mal laut aus: «Wegen der Belastung durch die Flüchtlingsfamilie führt wahrscheinlich nichts an einer Erhöhung des Steuerfusses vorbei.» Der Satz sollte einschlagen wie eine Bombe. Der «Blick» rechnete kurz darauf aus, dass die Betreuung dieser Familie in Hagenbuch mit rund 60'000 Franken pro Monat zu Buche schlägt. Therese Schläpfer dementierte diese Zahl nie, bis watson nachzeichnete, dass der Kanton mindestens die Hälfte der Kosten übernimmt und Hagenbuch nur für die drei von der Schule selbst beschlossenen Heimplatzierungen aufkommen muss.
Für die Hagenbucher Volksseele kam dies zu spät. Sie kochte. Und sie entlud sich an einer historischen Gemeindeversammlung im Dezember. «Schluss mit dem Sozialirrsinn», «Wir sollten einfach nicht mehr bezahlen!» und «Es geht um Widerstand!» riefen da die Bürger in den überfüllten Gemeindesaal. «Als kleines Hagenbuch können wir heute ein Zeichen setzen», sagte jemand. Und die Hagenbucher setzten das Zeichen: Mit 82 zu 52 Stimmen lehnten sie das Budget 2015 und damit die Steuererhöhung ab. Obwohl die Steuern in den Jahren zuvor dank des kantonalen Finanzausgleiches ständig gesenkt wurden, damit Hagenbuch Eigenkapital verbrauchen konnte, um so noch mehr Geld aus dem Finanzausgleich zu erhalten.
Die Flüchtlingsfamilie war nicht an der Gemeindeversammlung im Dezember, auch nicht an der darauffolgenden. Seit sie vor ein paar Jahren auf Wohnungssuche im «Landboten» porträtiert wurde, hat sie nie mehr mit den Medien gesprochen. Die kleinen Kinder haben sich in der Schule eingegliedert und schnell Deutsch gelernt. Die Mutter sieht man im Dorf selten. Selbst die Bewohner des Yamagishi-Dorfes dürfen nicht mehr ohne Begleitung von Betreuungspersonal in die Wohnung der Familie. Diese bleibt auseinandergerissen.
Die KESB hat nach den Vorfällen beim Winterthurer Bezirksrat Aufsichtsanzeige gegen Hagenbuch eingelegt. «Die Gemeinde braucht unserer Ansicht nach Unterstützung bei der Bewältigung von Gemeindeaufgaben, insbesondere bei der Integration von Ausländern sowie beim Schutz der Persönlichkeitsrechte», schrieb die KESB-Präsidentin. Der Bezirksrat kam zum Schluss, dass die Gemeinde kein «klares Recht» verletzt hat und empfahl der KESB wie auch dem Gemeinderat «dringend» ihren Streit nicht mehr über die Medien und in der Öffentlichkeit auszutragen, sondern sich in den zuständigen Gremien zu besprechen.
Der Streit hat sich beruhigt. Doch gewonnen hat irgendwie keiner. Weder die Flüchtlingsfamilie noch die Gemeinde oder die KESB. Nur Hagenbuch hat ein Stück seiner Unschuld verloren. Zum ersten Mal in der Geschichte des traditionellen SVP-Dorfes hat die SP vor drei Monaten eine Abteilung in Hagenbuch gegründet. Der Schulpräsident und Gemeinderat Horst Steinmann ist in den Vorstand gewählt worden.
Und als wäre die Geschichte noch nicht ganz ausgestanden, legten die Hagenbucher am letzten Sonntag ein Nein zur Härtefallkommission für Asylbewerber in die Urne und widersprach damit dem ganzen Kanton Zürich, dessen Gemeinden geschlossen hinter der Härtefallkommission standen.
Um die Härtefallkommission kümmern sich zwei junge Hagenbucher Mütter im Sonnenhof bei Cola und Zigaretten recht wenig. «Es sind halt vielleicht ein bisschen zu verschiedene Kulturen, die da aufeinander treffen», resümieren die beiden. Man höre ja manchmal Geschichten, dass andere Flüchtlingsfamilien gar Feuer in ihren Wohnungen anzünden, weil sie nicht wissen, wie der Kochherd zu bedienen sei. Man hätte halt manchmal die Kinder abends alleine auf der Strasse gesehen. In Hagenbuch falle so eine Familie halt auf.
Etwas Gutes können die Frauen dem Ganzen aber dennoch abgewinnen: «Wenigstens wissen die Leute jetzt, woher man kommt, wenn man sagt ‹aus Hagenbuch›.»