Der Luzerner Geologe Beat Keller ist in diesen Tagen schwer beschäftigt: Der Regen und das Hochwasser halten ihn auf Trab. Eine Stunde hat er Zeit für ein Treffen, dann muss er weiter.
Seit Dienstag versinkt die Schweiz im Regen. Bilder von überfluteten Strassen und Notschutzmassnahmen erreichen die Öffentlichkeit. Beat Keller ist Sachverständiger und leitet ein Geotechnikbüro in Luzern. Das Hochwasser habe ihn nicht überrascht, sagt er. «Solche Überschwemmungen sind völlig natürlich. Das Problem ist, dass wir den Flüssen ihren Platz weggenommen haben.»
Durch die starke Besiedlung am Wasser brauche es technische Massnahmen, um die Häuser zu schützen. Allerdings orientiere man sich dabei an einem falschen Massstab, sagt Geologe Keller: «Die ergriffenen Schutzvorkehrungen beruhen auf den Erfahrungen, die man im 20. Jahrhundert gemacht hat – einer klimatisch gnädigen Zeit. In Zukunft müssen wir mit weit heftigeren Witterungsverhältnissen und mehr Überschwemmungen rechnen.»
Was er mit seiner Aussage meint, will Keller an einem speziellen Ort veranschaulichen: Am Reusszopf in Luzern. Auf dem Weg dorthin erzählt der 65-Jährige, dass er sich bereits während seines Studiums an der ETH mit Naturkatastrophen beschäftigt habe. «Damals haben mich alle den Katastrophenjäger genannt.»
Der Reusszopf liegt just zwischen der Reuss, die aus dem Vierwaldstättersee fliesst, und dem Wildbach Kleine Emme. Das Gebiet wäre eigentlich nicht zugänglich: «Hochwasser – Durchfahrt gesperrt» steht auf dem Schild. Die wachsamen Gemeindearbeiter lassen nur Fachpersonen passieren. Der Fleck Natur wirkt wie eine Insel. Links und rechts der Kleinen Emme ragen Gebäude empor; es ist das Herz der Industrie.
Geologe Keller zweigt auf einen Kieselstein belegten Weg ab und geht flussaufwärts, entlang der Kleinen Emme. Dabei muss er teils über ganze Baumstämme steigen, die der Wildbach angeschwemmt hat. Um das tosende Wasser zu übertönen, erklärt er mit lauter Stimme, mit welchen Massnahmen man die Häuser vor dem Hochwasser schützt.
Geologe Beat Keller erklärt, dass man für den Schutz vor Hochwasser den Flüssen wieder mehr Raum geben sollte. @watson_news #Hochwassergefahr #hochwasser #emmen #Luzern pic.twitter.com/fHaZZbLJMU
— Vanessa Hann (@hann_vanessa) July 15, 2021
Hier sehe man, welche Lehre man aus dem Jahr 2005 gezogen habe, erklärt Keller. Damals lag das ganze Gebiet um den Reusszopf unter Wasser. Das Jahrhunderthochwasser löste ein Umdenken bei den Behörden aus: Die Kleine Emme wurde in zwei geteilt, im Siedlungsgebiet erstellte man Uferwände aus Beton und versuchte, dem Fluss mehr Platz zu geben.
Doch die ergriffenen Massnahmen nützten nur bedingt. Keller erklärt: «Die heutigen Schutzmassnahmen beruhen auf aktuellen Erfahrungen. Man war sich beim Bau oft nicht bewusst, was die Natur alles anrichten kann.» Alleine im 19. Jahrhundert gab es viel heftigere Überschwemmungen. Wir müssen damit rechnen, dass es in Zukunft wieder mehr und heftigeres Hochwasser geben wird.
Hinzu komme der Klimawandel als zusätzlicher Treiber. «Wir bringen damit einen künstlichen Einfluss auf die Natur, die dadurch zum einen mehr austrocknet und andererseits wird es aber extremere Niederschläge geben. Damit müssen wir lernen umzugehen», so Keller.
Warum gibt man den Flüssen also nicht schon heute mehr Platz? Es sei ein ewiger Streit und eine Interessensabwägung, erklärt Urs Zehnder. Er leitet die Abteilung Naturgefahren beim Kanton Luzern. «Während Landeigentümer und -bewirtschafter fordern, dass dafür weniger Fläche in Anspruch genommen wird, sind die Dimensionen der Flussverbreiterung für den Naturschutz zu klein.»
Aktuell erarbeitet der Kanton Luzern an der Reuss ein Hochwasserschutz- und Revitalisierungsprojekt. Vergangenen Herbst wurde es zum zweiten Mal öffentlich aufgelegt. Es ist mit Kosten von rund 195 Millionen Franken schweizweit eines der grössten Projekte seiner Art. Vom Jahr 2009 an bis 2020 habe der Kanton rund 270 Millionen Franken in den Schutz vor Hochwasser investiert, sagt Zehnder. Der Hochwasserschutz werde mittels raumplanerischer Massnahmen und Gewässerunterhalt sichergestellt; erst wenn diese nicht genügten, werde zu technischen Mitteln gegriffen.
Geologe Keller ist sich bewusst, dass die Politik in diesem Bereich eine lähmende Komponente ist. Doch für ihn sind die Massnahmen klar: «Wir müssen der Natur den nötigen Raum eingestehen, denn sie wird unseren Bauten nicht weichen.»
Auf dem Rückweg zeigt Keller auf der Brücke, wie sich die Kleine Emme und die Reuss treffen. Ein imposantes Bild, erklärt er: «Der Wildbach strömt mit einer Energie von rund 20'000 Watt in die träge Reuss und drängt sie zur Seite.» Im Extremfall könne es so weit kommen, dass die Kleine Emme die Reuss zurückstaut und so den Wasserausfluss aus dem Vierwaldstättersee stark behindere.
Dass das passiere, sei aber höchst unwahrscheinlich, sagt Keller. Grundsätzlich drohten Überschwemmungen, wie wir diese gerade erleben, geschätzt alle zehn Jahre. Ausserdem: «Das Jahr 2005 hat die Behörden wachgerüttelt. Ohne die damals ergriffenen Schutzmassnahmen würde das momentane Hochwasser die Bevölkerung weitaus heftiger treffen.»
Inzwischen ist es kurz vor Mittag und Geologe Keller muss zu seinem nächsten Termin. Eilig verabschiedet sich der Katastrophenjäger und fährt in seinem Geländewagen davon.