Die Grosseltern waren arm. Analphabeten. Zwanzig Stunden lang arbeiteten sie jeden Tag, auf der Feigenplantage in Süditalien, in den Rucksack packten sie einen im Feuer aufgeheizten Stein, um sich in der kalten Jahreszeit die starren Finger zu wärmen. Manchmal assen sie aus lauter Hunger Hunde. Und Schnecken.
Wobei Schnecken in Süditalien nicht eine Armeleute-Mahlzeit sind, vielmehr eine Tradition. «Einmal im Jahr gibt es dort Schneckenessen als Volksfest. In Frankreich essen sie sechs Schnecken aus einem Pfännchen mit einem Gäbelchen, in Süditalien hundert Schnecken mit dem Löffel aus einem grossen Teller.»
Dies erzählt der Enkel, Mirko Bischofberger, 35, «ein echter Secondo», ein Doktor der Biochemie und Filmemacher. Mirkos Mutter ist Schneiderin und hat in Zürich erst für Ta-bou die einzig tragbare Bademode erfunden, bevor sie sich im Seefeld selbständig machte. Bruder Dario, 40, ist Weinhändler mit zwei Geschäften im Zürcher Kreis vier und einer Bar im Kreis fünf.
Mirko und Dario haben jetzt ihren Film «Dog Men» im Kino, die Mutter hat die Kostüme geschneidert, und Mirkos einstiger Biochemie-Kommilitone, der Schauspieler und Liedermacher Nils Althaus, spielt mit. «Dog Men» ist ein Familienunternehmen. Getränkt mit allem, was die beiden Bischofbergers an cineastischer Italianità eingesogen haben: Pasolini, Fellini, Tornatore. Also Weltkino-Vorbilder. Klassiker. Die beiden Brüder wollen nun mal einfach gross denken und unabhängig, nicht daran, «einen Schweizer Film für Schweizer Publikum» zu machen.
Gedreht wurde – natürlich – in Süditalien, auf der kleinen Insel Favignana vor Sizilien, einer ehemaligen Thunfisch-Fischerinsel, dort, wo die Menschheit entdeckt hat, dass sich Thunfisch ideal in Dosen abfüllen lässt. Heute lebt Favignana nur noch vom Tourismus. Und vielleicht ja auch in Zukunft vermehrt vom Film. Denn die Bischofberger-Brüder fanden einen alten Marmorsteinbruch mit einem äusserst surrealen Design, halb sieht es aus wie eine Hochhausskizze, halb wie ein Gefängnisgitter oder Teile einer Raumschiffverkleidung. Auf jeden Fall eher nach Wissenschaft als nach Natur.
Für den Naturwissenschaftler Mirko ist das wichtig. Die «Science». Auch die Science in der Fiktion einer Geschichte. Die Science Fiction. Und in der Fiction selbst wiederum die Geschichte im Sinn von Historie. «Dog Men» ist quasi Retro Science Fiction. Er erzählt von den armen Inselbewohnern im Süden, deren Meer leer gefischt ist, die einander auflauern und bekämpfen und die fast in den Zustand von Höhlenbewohnern zurückgefallen sind. Ohne Sprache, ohne Erbarmen. Und die sich von Hunden und Schecken ernähren.
Doch die der Zivilisation abhanden gekommenen Geschöpfe werden selbst überwacht – von Ausserirdischen. Von einer schönen, kühlen Frau und einem jungen Mann, mit einem extraterrestrischen Körpergefühl (sie sind zwei Tänzer aus dem Ballett des Zürcher Opernhauses). Alle locken einander in Fallen, darin gipfelt ihre (Rest-) Intelligenz.
Ungefähr so. Und in Schwarz-Weiss. Wenn denn überhaupt etwas erzählt wird in «Dog Men»: Man muss den Film weniger als Film und vielmehr als eine 70-minütige, atmosphärisch überragende, faszinierende filmische Installation besuchen. Als völlig verstrahlter Trip. Verwirrt verlässt man das Kino. Wo war ich? Wo bin ich? Und vor allem – wer? Mensch, Tier, posthumanes Wesen? Gesprochen wird fast nichts, ein bisschen Polnisch – von der Ausserirdischen –, die andern sind vorwiegend stumm, auch, weil sie Laien sind und vor einer Kamera nicht wirklich reden können.
Gut vier Wochen lang filmten sie ungestört in den Steinbrüchen von Favignana. «Am letzten Tag kam so ein junger Schnösel, so Züriberg-Style, und fragte: Wisst ihr, wo ihr seid? Wir wussten es genau, auf dem Privatgrundstück der Modeunternehmerin Miuccia Prada, einer der reichsten Frauen von Italien, aber wir sagten natürlich: Keine Ahnung! Unser Film ist eh viel zu klein, sie wird gar nie davon erfahren. Und sollte sie es doch einmal tun, dann haben wir es echt weit gebracht.»
Vielleicht würde Frau Prada dann ja auch eine Sponsorin vom nächsten Bischofberger-Projekt. So, wie sie für «Dog Men» Helvetic Airways als Sachsponsor für die Reisen gewinnen konnten. «Dog Men» kostete insgesamt 60'000 Franken, dank Helvetic und Crowdfunding kamen 20'000 Franken zusammen, den Rest teilten sich Mirko und Dario, «über zwei Jahre gerechnet, macht das weniger als tausend Franken im Monat». Das war ihnen die Freiheit wert.
«Keinen Film zu machen, ist keine Alternative. Wir machen den nächsten Film sowieso, ob mit 50'000 Franken oder einer halben Million. Entweder haben wir dann ein Auto, das wir zerschrotten können, oder nicht. Dann lösen wir es halt einfach anders. Aber 2016 wird gedreht.» Bestätigt sehen sich die beiden durch den diesjährigen Gewinner von Locarno: «Das ist so schön: Da kostet ein Festival 13 Millionen Franken, aber der erste Preis geht an den Südkoreaner Hong Sang-Soo, der mit nur 100'000 Franken einen Film gemacht hat.»
Und dann ist da noch das Swiss Fiction Movement, das Mirko vor einem Jahr mit Peter Luisi, Yangzom Brauen, Simon Jacquemet, Eileen Hofer, Samuel Schwarz u.v.a. gegründet hat und das damals alle überraschte. Die mitteljunge Generation von Schweizer Filmemachern setzt sich dabei für die Jungen ein, dafür, dass diese in ihren Lehrjahren autonomer und experimenteller arbeiten dürfen und nicht von Anfang an auf eine schweizerisch bekömmliche Konventionalität runtergedimmt werden.
Heute ist das Swiss Fiction Movement ein Verein mit gut hundert Mitgliedern, und im neuen Kulturleitbild der Stadt Zürich ist jetzt verankert, dass ab 2016 jedes Jahr 1,5 Millionen Franken zusätzlich in die Zürcher Filmstiftung fliessen, unter der Bedingung, dass eine halbe Million davon für experimentelle Low-Budget-Spielfilme von Nachwuchsfilmern eingesetzt wird. Es wurde dafür fast der Wortlaut des Swiss Fiction Movement verwendet.
Die neue Bewegung will «neue Handschriften», will den Schweizer Jarmusch, den Schweizer Almodóvar entdecken. Will viel. Will träumen. Gross träumen. Mirko träumt dabei wie immer von Italien. «Die Mutter meiner Kinder kommt aus dem gleichen Dorf wie Giuseppe Tornatore. Als Kind hat sie einmal in einem seiner Filme mitgespielt, da gibt es einen Dialog zwischen ihr und Marcello Mastroianni. Sowas ist doch Wahnsinn, oder? Das ist doch wunderschön! ‹Cinema Paradiso› ist nichts anderes als die Geschichte jenes Dorfes.»
Mirko und Dario erzählen nichts anderes als die Geschichte jener Gegend, wo ihre Grosseltern herkommen. Nur ein bisschen anders, in ihrer Handschrift eben.
«Dog Men» läuft jetzt im Kino.