Zum 18. Geburtstag schenkt die Mutter der Tochter die Sexualität. Indem sie beschliesst, all die sedierenden Medikamente abzusetzen, die aus der behinderten Dora einen müden, dumpfen Sack machen. Die Tochter kommt zu sich, die Lust brennt mit ihr durch, die Lebensfreude auch, sie übt am Vater Zungenküsse und masturbiert in der Badewanne, während die Mutter ihr alte Kindermärchen vorliest. Und verführt einen Fremden, der ihr sofort in einer U-Bahn-Toilette ein Kind macht. Das abgetrieben wird.
An dieser Stelle liess der Autor Lukas Bärfuss in seinem Theaterstück «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» der Dora die Gebärmutter entfernen. Das war 2003. Die Regisseurin Stina Werenfels lässt nun in ihrem Spielfilm «Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» ihre Heldin noch einmal schwanger werden und das Kind austragen. «Ich sah das schon immer im Theaterstück, Lukas wusste das nur nicht, da musste erst eine Frau kommen», sagt sie Freitagnacht, bei der Welturaufführung von «Dora ...».
Lukas Bärfuss fasste zusammen, was alle Anwesenden dachten: Der Film sei «ein grosses Geschenk, ich bin ganz us em Hüsli, es ist wunderbar. Bravo. Danke.» Ein Film, der über dem bitterkalten Solothurn aufging wie ein berstender Stern. Dass Stina Werenfels alles kann, was Kino können muss – also, dieses dichte, packende, vibrierende und visuell betörende Erzählen –, das wissen wir schon seit «Nachbeben» (2006), ihrer Ausweitung der Krisenzone im Zürcher Investment-Banker-Milieu.
«Dora ...» bringt noch einmal mehr. Beantwortet mit einer einleuchtenden Selbstverständlichkeit Fragen wie: Behinderte und Sex, geht das gut? Dürfen die denn schwanger werden? Sollte man die nicht alle sterilisieren? Ist soviel Freiheit den andern Menschen zumutbar? Gerade heute, wo doch schon die Geburt eines behinderten Kindes ein Affront gegen alle Regeln der pränataldiagnostischen Domestizierung darstellt? Ja, ja, nein, ja und ja.
2003 machte die Uraufführung des Stücks aus Sandra Hüller («Finsterworld», «Requiem») sofort einen Star. Der 24-jährigen Victoria Schulz wird es jetzt auch nicht anders gehen. Dora ist ihre erste grosse Filmrolle, und sie platzt vor Lebensfreude, ist rührend, nervig, hypersinnlich, völlig ungeniert und mit einem naiven Vertrauen darauf, dass in der Sache Sex nicht der Kopf die Führung zu übernehmen braucht, sondern ganz einfach der Körper. Im Sex ist sie am «normalsten». «Ich will nicht behindert sein», ist ihr herzzerreissendes Lamento.
Ihre Dora ist ein Instinktwesen, überhaupt nicht gesellschaftstauglich, aber umso seliger. «Scheidenpimmelchen» nennt sie den Akt zwischen Mann und Frau, und «Scheidenpimmelchen ist schön», selbst in der gewaltsamsten Form. Selbst dann, als der «normale», aber geistig auch nicht gerade ungestörte Peter (Lars Eidinger), sie in der Toilette vergewaltigt. Danach entsteht zwischen den beiden eine Art Liebesbeziehung, denn natürlich ist diese Dora entwaffnend und entfesselt ihn, sie ist die Verkörperung seines Soundtracks, der da heisst: «Verschwende deine Jugend». Und er, der eins jener seltsam lurchenartigen Sexmonster à la Houellebecq ist, lernt, wenigstens einen Hauch von Verantwortung zu tragen.
Lars Eidinger ist ein deutscher Superstar. Victoria Schulz wird bald einer. Jenny Schily (die Tochter von Otto) spielt die Mutter, die ums Verrecken noch ein gesundes Kind möchte und bei Bourlesque-Partys das Catering macht, was zum Glück zunehmend zu ihrer eigenen sexuellen Entspannung beiträgt. Und da wären wir beim Skandal von «Dora ...»: Stina Werenfels hat in der Schweiz mit Ausnahme vom Schweizer Fernsehen keine Gelder erhalten. All die Schweizer Fördergremien zogen den Schwanz ein.
«Das Drehbuch hat die Leute in den Kommissionen auf die Palme gebracht, sie reagierten völlig irrational. Sie haben mir abstruse dramaturgische Grundsätze um die Ohren gehauen, warum das nicht klappen könne», sagt Stina Werenfels in der WoZ. Unterstützt haben sie dann lieber bürokratisch sedierten Mist wie den Eröffnungsfilm «Unter der Haut» – ein Familienvater wird schwul und bricht aus, die Mutter wird depressiv, doch dann streicht sie die Wohnung rosa und findet sofort einen neuen Lover. In Deutschland, wo schon das Stück ein Strassenfeger gewesen war, fand sie offene Ohren und Arme.
Also Leute: «Dora ...» ist grosses Drama, grosse Komödie, grosse Unterhaltung, grosse Kunst. Und wurde im Solothurner Landhaus, unten an der Aare, minutenlang und äusserst lautstark bejubelt.
Gleichzeitig holte sich ein paar hundert Meter bergauf, in der Reithalle, ein anderer seine Ovationen ab, ein Herr im Rollstuhl, der am 7. Feburar 80 wird und dessen Frau tatsächlich Romy Schneider heisst. Die Rede ist natürlich von Jörg Schneider, dem grossen Volksschauspieler, der sich seit seiner Krebsdiagnose im vergangenen Herbst ans Abschiednehmen gemacht hat.
«Usfahrt Oerlike» heisst der Film, und mit «Usfahrt» ist der Exit gemeint, denn so sehr, wie Dora ihre Medikamente hasst, so sehr wünscht sich Hans Hilfiker (Schneider) das letzte Gift. Frau tot, Hund tot, Sohn entfremdet, die Körpermaschinerie untauglich, das Herz zu traurig. Herr Hilfiker will gehen. Sein bester Freund Wilil (Mathias Gnädinger), eine Alleinunterhalter-Saftwurzel mit flotten Autos, steht im bei, sein Sohn söhnt sich mit ihm aus, aber ein Zurück gibt es nicht.
Paul Riniker hat den Film gedreht, und die drei älteren Herren – Schneider, Gnädinger, Riniker – fanden da einen Weg miteinander, fassten ein Vertrauen und schufen daraus die Geschichte einer Männerfreundschaft, die grauenhaft ans Herz geht, man darf seine Nastüechli auf keinen Fall vergessen, bei diesem Film. Die Nebenschauplätze sind nicht so wichtig – und auch nicht so gut, es wird da zuviel mit kitschigem Harmoniebedürfnis eingerenkt.
Jörg Schneider hat sich immer schon eine ernste Hauptrolle gewünscht, es hat ihm nun fast nicht mehr gereicht, er stand für die Dreharbeiten mehr oder weniger vom Spitalbett auf, und nach Beendigung des Films kam die Krebsdiagnose. Er selbst würde niemals Sterbehilfe beanspruchen, sagt er. Umso höher ist es ihm anzurechnen, dass er im Film einen spielt, dessen Radikalität nicht mehr zu brechen ist. Und ja, er hat jetzt den Respekt der Solothurner Filmgemeinde. Möge sie ihm bald seinen Achzigsten versüssen.
«Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» läuft ab 19. Februar im Kino.
«Usfahrt Oerlike» läuft ab 29. Januar im Kino.