Es ist das reinste Chaos: Annullierungen, Verspätungen und Defekte plagen diesen Sommer Passagiere. Die Rede ist nicht vom Fliegen, sondern von der Bahn. Auslandsreisen mit dem Zug sind mittlerweile zur Resilienz-Übung für Masochisten geworden.
Züge von und nach Deutschland – in den mit Abstand wichtigsten Auslandsmarkt der SBB – verkehren derzeit so unzuverlässig, dass von einem geordneten Betrieb nicht mehr die Rede sein kann. Zwischen Zürich und Stuttgart fahren wegen einem Stellwerkschaden gar keine Züge mehr. Die Deutsche Bahn (DB) will das Problem zwar bis am 24. Juli beheben, doch dann ist gerade mal für eine Woche Normalbetrieb. Ab dem 30. Juli fallen die Züge wieder aus: Bauarbeiten.
Ähnlich desolat ist die Lage bei den ICE-Zügen zwischen der Schweiz und Frankfurt, Hamburg und Berlin. Anfang Juli zogen die SBB zwar die Notbremse: Der ICE 71 von Hamburg über Basel nach Zürich und Chur fährt seither wegen den grossen Verspätungen bis auf weiteres nur bis Basel. Die Komposition wird dort parkiert und kommt als Ersatzzug in den Einsatz, um bei Ausfällen anderer ICE immerhin innerhalb der Schweiz pünktliche Ersatzverbindungen bieten zu können.
Die Situation bei den verbleibenden ICE-Verbindungen ist aber weiterhin katastrophal. Das zeigt eine Analyse von CH Media für die Woche vom 13. bis 19. Juli. Untersucht wurden die ICE-Züge aus Deutschland, die täglich über Basel weiter in die Schweiz verkehren - von Hamburg nach Zürich und teils weiter nach Chur (ICE 73, 75, 77 und 79) sowie von Berlin nach Bern und Interlaken (ICE 371 und 373).
Von 42 Zügen erreichten nur gerade fünf pünktlich ihr Ziel in der Schweiz. Weitere 17 kamen mit einer durchschnittlichen Verspätung von 25 Minuten an. Ganze 20 Züge hingegen erreichten ihren Schweizer Endbahnhof gar nie, sondern wurden wegen Verspätungen vorzeitig in Basel gestoppt. Zwischen Samstag und Dienstag erreichte laut den Daten der SBB beispielsweise kein einziger ICE-Zug aus Deutschland wie vorgesehen Bern und Interlaken.
Für Reisende heisst das: In Basel müssen sie ihren Zug verlassen und auf einen Inlands-Zug der SBB umsteigen. Sitzplatz-Reservationen werden nichtig, zudem erhöht sich die Verspätung zusätzlich – und je nachdem müssen Reisende in Zürich oder Bern noch einmal den Zug wechseln. Weil die Kompositionen dann auch in Gegenrichtung fehlen, müssen auch Reisende aus der Schweiz nach Deutschland mindestens einmal mehr den Zug wechseln.
Dabei führt laut einer Analyse der SBB nur schon ein zusätzlicher Umsteigevorgang zu Kundenverlusten von bis zu 20 Prozent. «Eine direkte Fahrt ohne Umsteigen ist für die Fahrgäste manchmal wichtiger als die Gesamtreisezeit inklusive Umsteigen», heisst es in einer Studie des Verbands öffentlicher Verkehr.
Mit Umsteigen im Bahnhof Basel SBB sind Reisende noch gut bedient. Gelegentlich enden die ICE-Züge auch schon im Badischen Bahnhof, weil die DB die Züge vorzeitig wendet, damit wenigstens die nächste Verbindung zurück nach Deutschland pünktlich starten kann. Passagiere müssen dann selbst schauen, wie sie mit der sporadisch verkehrenden S-Bahn oder dem Tram zum Bahnhof Basel SBB gelangen und dort einen Anschlusszug erwischen.
Wer ein solches Reise-Martyrium einmal mit Koffern und kleinen Kindern im Schlepptau hinter sich gebracht hat, von dem braucht die Bahn nicht zu erwarten, das nächste Mal wieder den Zug zu nehmen. Auch eine Wartezeit von zwei Stunden in der Schlange vor dem Flughafen-Check-In ist für viele das deutlich kleinere Übel.
Die SBB begründen die desolate Situation damit, dass Züge aus Deutschland oft bereits verspätet in Basel ankommen. Sprecherin Jeannine Egi sagt: «Um die Übertragung von Verspätungen auf das Schweizerische Netz zu minimieren, werden stark verspätete Züge in Basel SBB durch einen anderen Zug ersetzt für eine pünktliche Weiterfahrt innerhalb der Schweiz». Reisende aus Deutschland müssten dann umsteigen.
Verspätete Züge aus Deutschland trotzdem an ihr Ziel in der Schweiz weiterzuführen, sei nicht möglich: Für diese Züge seien jeweils keine Trassen mehr verfügbar. Die SBB bedauerten die Unannehmlichkeiten für die betroffenen Reisenden, so Egi. Man versuche, die ICE-Züge wenn immer möglich wenigstens bis zum Bahnhof Basel SBB zu führen.
Edwin Dutler ist bei der Interessenorganisation Pro Bahn für den internationalen Verkehr zuständig und ist regelmässig in Deutschland unterwegs. «Das Problem dort sind eindeutig die Baustellen», sagt er. Einerseits seien jeweils viel längere Abschnitte als in der Schweiz betroffen. Andererseits klappe auch die Koordination zwischen verschiedenen Baustellen und ihren Auswirkungen nicht.
Ein weiteres Problem sieht Dutler in der Struktur des deutschen Schienennetzes. «Es gibt einige gute Rennstrecken für die ICE-Züge. Aber vor den Bahnhöfen schleichen die Züge rum», sagt er. Die Infrastruktur sei nicht den Bedürfnissen entsprechend ausgebaut worden. «Der Zugverkehr nach Deutschland ist derzeit ein Trauerspiel», sagt Dutler. Das gehe soweit, dass es Überlegungen innerhalb der SBB gebe, den internationalen Verkehr mit dem Land anders zu organisieren.
Die Probleme in Richtung Deutschland sind die grössten, aber nicht die einzigen. Ausgerechnet in den Sommerferien hat es die Bahn fertiggebracht, die direkten TGV-Züge von Zürich nach Paris einzustellen. Begründet wird das mit Bauarbeiten – dieses Mal auf Schweizer Seite. Dem TGV von Bern in die französische Hauptstadt hat die Betreibergesellschaft TGV Lyria, an der die SBB beteiligt sind, schon 2019 aus wirtschaftlichen Gründen den Stecker gezogen.
Zuverlässiger funktioniert der internationale Bahnbetrieb zwischen der Schweiz und Italien, auch wenn die Züge nicht immer pünktlich verkehren. Auch die Züge nach Österreich machen wenig Probleme, sind aber zeitlich für die wenigsten eine echte Alternative zum Flugzeug: Der schnellste Zug braucht für die etwa 750 Kilometer lange Strecke von Zürich nach Wien acht Stunden. Passagiere ziehen die Bahn in der Regel nur bei Fahrzeiten von bis zu vier, in Ausnahmefällen auch bis zu sechs Stunden als Alternative zum Flugzeug in Betracht.
Problematisch sind die vielen Verspätungen und Annullationen auch deshalb, weil die Bahn mitten in der Hitzewelle noch nicht mal mit mehr Komfort aufwarten kann. Das liegt auch an einer seltsamen Regelung zu Klimaanlagen. Der öffentliche Verkehr in der Schweiz hat vor einigen Jahren beschlossen, diese zu schonen. Innenräume werden ungeachtet der Temperatur draussen nur noch um wenige Grad abgekühlt.
So wird es selbst in modernen Fahrzeugen städtischer Verkehrsbetriebe auch mal planmässig über 30 Grad warm. Doch während Reisende auf einer kurzen Busfahrt in der Stadt noch darüber hinweg sehen mögen, sind so hohe Temperaturen in Fernverkehrszügen ein Komfort-Nachteil. Wer schwitzt schon gerne stundenlang im Sitzen, ohne die Möglichkeit, ein Fenster zu öffnen?
Die SBB versprechen zwar immerhin, die Temperatur wenn möglich unter 30 Grad zu halten, und die DB kühlt die Innenräume auch bei 35 Grad draussen auf 27 Grad. Doch für viele ist das bei einer stundenlangen Fahrt noch immer deutlich zu warm. Das Staatssekretariat für Wirtschaftempfiehlt etwa in Büros Temperaturen von maximal 26.5 Grad Celsius.
Für Schwangere gelten Temperaturen von über 28.5 Grad gemäss der Mutterschutz-Verordnung auf der Arbeit sogar als gefährlich. Hinzu kommt: Im eigenen Auto, zu dem die Bahn in Konkurrenz steht, lässt sich die Temperatur selbst einstellen. Flugzeuge wiederum werden auf 23 bis 25 Grad gekühlt – eine Temperatur, die von den meisten als komfortabel empfunden wird.
Solche Faktoren sind vor allem wichtig, um Passagiere von der Bahn zu überzeugen, die pragmatisch zwischen den Verkehrsmitteln entscheiden. Wenn der ÖV Energie einspart, nur damit potenzielle Kundinnen und Kunden dann doch lieber das Auto nehmen, ist unter dem Strich nichts gewonnen.
An den Verspätungen ändert die Temperatur allerdings nichts. Die Pleiten-Show der Bahn wirft nun auch die Frage auf, ob künftige Ausbauten überhaupt möglich sind. Ab 2026 wollen etwa die SBB und die DB deutlich mehr ICE-Züge aus Deutschland via Basel in die Schweiz fahren lassen. Fast keine ICE sollen dann planmässig in Basel enden, sondern immer weiter nach Zürich, Chur, Bern, Interlaken und nach Brig verkehren. Auch mehr Züge von Italien über die Schweiz nach Deutschland sind geplant.
Aktuell halte man am geplanten Ausbau fest, sagt SBB-Sprecherin Jeannine Egi. Die schlechte Pünktlichkeit der DB sei vor allem auf grosse Bauarbeiten im gesamten deutschen Netz zurückzuführen. Die DB habe aber «Massnahmen definiert», um deren Auswirkungen in den kommenden Jahren zu verringern.
Edwin Dutler von Pro Bahn ist weniger optimistisch. «Ich sehe keine schnelle Lösung», sagt er. Die Deutsche Bahn leide immer noch unter Versäumnissen, die in der Ära des früheren Bahnchefs Hartmut Mehdorn begangen worden seien. Doch auch der jetzigen Regierung sei es nicht gelungen, etwa Geld aus der Strassenmaut in den Schienenverkehr zu leiten. Zwar höre man von den Deutschen viel darüber, was sie mit ihrer Bahn wollten. «Dafür müssten sie aber auch Geld in die Hand nehmen. Man müsste in kurzer Zeit mit vielen Mitteln etwas erreichen», sagt Dutler. «Ich zweifle daran, dass der Wille dafür vorhanden ist.» (bzbasel.ch)