Woran denkst du, wenn du «Tantra» hörst?
An akrobatische Sexstellungen? Erotische Massagen? Wilde Orgien? Sexuelle Erleuchtung?
Entgegen der weitverbreiteten Auffassung ist Sexualität nur ein ganz kleiner Teil der tantrischen Philosophie. Die uralte Schrift «Vigyan Bhairav Tantra» beinhaltet 112 Meditationstechniken – sogenannte Dharanas. In nur 6 der 112 Techniken zur Erweckung und Erweiterung des Bewusstseins kommt die Sexualpraktik zum Zuge.
Tatsache ist: Sex sells Mit Tantra wird vielfach in westlichen Ländern für bessere Sexualität und intensivere Orgasmen geworben. Wie viel haben diese Ausformungen noch mit der hinduistisch-buddhistischen Philosophie zu tun?
Kaum eine spirituelle Praxis werde derart missverstanden wie Tantra. Tatsächlich sei Tantra die einzige spirituelle Praktik, die unsere sexuelle Lebensenergie nicht ausschliesst, sondern sie inkludiert und mit ihr arbeitet, erklärt Ananda Inglin, die Tantra in der Schweiz unterrichtet. «Da wir mit der sexuellen Energie arbeiten und mit unseren Mustern rund um Beziehungen und Intimität konfrontiert werden, spielt die Sexualität eine grosse Rolle in Tantra.»
Yoga, eine weitere spirituelle Praxis aus Indien, mache beispielsweise einen grossen Bogen um die Sexualität, obwohl beide Praktiken dazu dienten, die Energie in unserem Körper zu steigern. «Yoga ist generell etwas, was man für sich alleine macht. Im Tantrismus gibt es Praktiken, die alleine und zu zweit ausgeführt werden können», sagt Inglin. So gehe man beispielsweise in einer Partnerübung in einen energetischen Austausch mit jemand anderem über.
Tantra auf die Sexualpraktik zu reduzieren würde der Philosophie aber nicht gerecht werden. «Tantra ist ein Weg der Selbsterkenntnis und Persönlichkeitsentwicklung und verfolgt die Absicht, tief verwurzelte Muster und Verhaltensweisen zu heilen sowie neue Perspektiven und Herangehensweisen zu übernehmen», so die Tantralehrerin. Tantra vermittle Praktiken und Tools, die einem helfen, einen bewussten, empathischen und verbundenen Umgang in Beziehungen, in der Intimität und mit seinem Körper zu kultivieren.
Die tantrischen Künste würden die Teilnehmenden dabei unterstützen, die eigene kreative sexuelle Energie zu akzeptieren, zu aktivieren und zu erweitern.
Gleichzeitig würde man in Tantra-Kursen aber nicht in die Sexualität übergehen. «Hier herrscht ein grosses Missverständnis, da viele Menschen die sexuelle Energie ausschliesslich mit Sexualität assoziieren», betont Inglin.
Die tantrische Sexualpraxis könne nicht mit der Sexualität verglichen werden, welche die meisten von uns kennen und die uns in vielen Pornos gezeigt wird. Ananda Inglin sagt: «Das ist ein Unterschied wie Tag und Nacht.»
Die tantrische Sexualität sei viel facettenreicher. «Wir gehen nicht nur eine physische Begegnung ein, sondern verbinden uns auf der energetischen Ebene, der Herzebene und der spirituellen Ebene.» Insbesondere die energetische Ebene nehme einen grossen Platz ein. «Wir bringen die sexuelle Energie hoch zum ganzen Körper und haben so die Möglichkeit, energetische oder Ganzkörperorgasmen zu erleben – teilweise ohne Berührung, Stimulation oder Ejakulation.»
Zum Höhepunkt, ohne dass eine Berührung oder Stimulation stattgefunden hat – wie ist das möglich und wie fühlt sich das an? Vorstellen könne man sich das so: «Je mehr wir mit Energie arbeiten, desto stärker wird die Wahrnehmung und das Fühlen von Energie. Es ist wie ein Muskel, der trainiert werden kann. Wenn zwei stark energetische Menschen zusammenkommen und in einen Energieaustausch gehen oder energetischen Sex haben, kann die Energie so hoch steigen, bis sie sich in einen energetischen Orgasmus entlädt.»
Da keine genitale Stimulation erfolge, fühlt es sich aber anders als ein genitaler Orgasmus an. «Ich erlebe das so, dass die Energie mehr verteilt ist im ganzen Oberkörper als beim genitalen Orgasmus», sagt Inglin.
Die Energie könne sich auch im Herz (oder auch anderen Chakren) entladen, wenn man den Fokus zum Herz bringe und versuche, Energie dorthin zu lenken. So könne es beispielsweise auch zu einem Herzorgasmus kommen.
Tantra anerkenne Sex als eine heilige Vereinigung zwischen zwei Menschen. Indem Sex aber nicht nur auf die Lust und den Trieb beschränkt wird, werde er zu einer spirituellen Praxis. «Im Moment, wenn dieser Raum sich zwischen zwei Menschen auftut, erlangen wir die Vereinigung mit unserer Quelle – eine verkörperte Erfahrung der Einheit, die zutiefst spirituell ist», erklärt die Tantralehrerin.
Doch warum wird Tantra im Westen so stark mit Sex assoziiert? Ananda Inglin sagt: «Viele von uns haben nicht gelernt, eine gesunde Beziehung zu unserer sexuellen Energie und Sexualität aufzubauen», bedauert die Lehrerin. «Da Tantra eine der wenigen Praktiken ist, die diese lebenswichtige Lebenskraft nicht aktiv ausschliesst oder beschämt, wird Tantra oft mit Sexualität in Verbindung gebracht.»
Aber der ganze pseudowissenschaftliche Quatsch "mit Energie arbeiten", "energetische Menschen" etc ist einfach nur lächerlich.