Mit steter Sicht auf den Thunersee schnauft das Postauto die Strassen rauf. Bis zur Endstation: Sigriswil Dorf. Dass der Bus direkt vor einem Altersheim hält, überrascht wenig: In Sigriswil sind mehr als ein Drittel der 4833 Einwohner über 65 Jahre alt. Die Überalterung, die viele Wähler vor den Parlamentswahlen im Herbst besonders beschäftigt, ist hier Realität.
Das Altersheim Schärmtanne ist ein moderner Chalet-Bau mit Terrasse in der Verlängerung zum See mit Sicht auf den vulkanförmigen Niesen. Wüsste man nicht, dass hinter den Glastüren Senioren zuhause sind, würde man eher ein Hotel vermuten. Und tatsächlich: «Es kommt immer wieder vor, dass Touristen mit ihren Koffern reinlaufen und nach einem Zimmer fragen», sagt Helena Adams, Geschäftsleiterin des Altersheims.
Doch die Fassade ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit einem Gästehaus. Die Zimmer sind in der Schärmtanne besonders gross. «Sie sind eher wie eine geräumige Stube mit Balkon und Sicht auf See und Berg», sagt Adams.
Die Grosszügigkeit kommt nicht von ungefähr, denn das gemeindeeigene Altersheim liege den Einwohnern am Herzen. «Ich staune immer wieder, wie sehr sich die Sigriswiler für das Heim einsetzen. Sie geben das Geld gerne für das Haus aus.» Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass ein Grossteil der Senioren extra fürs Altern zugezogen ist.
Auch Adams möchten einmal von mehr Komfort im Altersheim profitieren. Als Gründe für einen Umzug nach Sigriswil nennt sie das Panorama, die gute ÖV-Verbindung und das Einkaufsangebot im Dorf. Ein Spaziergang durch das Dorf bestätigt: Hier hat es fast alles. Metzger, Molkerei, Bäckerei, Schuh- und Kleider-Laden, Gemüsehändler und sogar eine Postfiliale – in der ländlichen Schweiz mittlerweile eine Seltenheit, für die Senioren ein wichtiger Teil ihrer Selbstständigkeit im hohen Alter.
In Samedan ist die Sicht heute weniger gut als am Thunersee. Tiefe Wolken versperren den Blick aufs Bernina-Massiv. Dort hat sich der auf dem Samedaner Gemeindegebiet gelegene Roseg-Gletscher in den vergangen Jahrzehnten dramatisch zurückgebildet. Ein kalter Wind weht über den Vorplatz des Bahnhofs von Samedan. Am grauen Septemberhimmel tanzen unentschlossen ein paar vereinzelte Schneeflocken, ohne je den Boden zu erreichen. Von einem Plakat strahlt Magdalena Martullo-Blocher und wirbt um ihre Wiederwahl.
300 Meter die Via Retica hoch, im Restaurant Café Laager, isst eine Gruppe philippinischer Nonnen das Mittagsmenu und trinkt Cola dazu. Sie haben noch nie von Martullo-Blocher gehört. Die Besitzerin eines Möbel- und Souvenirgeschäfts im Ortszentrum sagt, dass das Ostergeschäft mit den Skigästen die letzten Jahre schlechter geworden sei. Ob das mit dem Klimawandel zu tun hat, darüber mag sie nicht spekulieren.
Der Mann hinter dem Schalter der örtlichen Postfiliale will auf jeden Fall an den Wahlen teilnehmen. Seinen Wahlentscheid habe er aber noch nicht getroffen: «Ich muss mir das erst mal in Ruhe anschauen». Die Kundin, welche kurz darauf die Post betritt, wird nicht wählen. Da habe der Journalist jetzt die falsche Person angesprochen, sagt sie entschuldigend. Bei Abstimmungen mache sie aber schon mit: «Dann wenn ich das Gefühl habe, jetzt ist es wirklich wichtig.» Bei den Wahlen empfindet sie dieses Gefühl nicht.
Das Perron am Bahnhof Chiasso ist fast leer. Zwei Jugendliche lehnen mit dem Rücken gegen das Geländer des Treppenaufgangs und schauen in ihr Smartphone. Ein älterer Mann blättert durch eine Gratiszeitung, an seinem rechten Arm hängt der Henkel eines Regenschirms. Auch im Tessin ist inzwischen der Herbst eingekehrt.
Zwei Grenzwächter in königsblauer Uniform hasten, zwei Stufen aufs Mal nehmend, die Treppe hinauf zum Perron. Es ist 14.10 Uhr, der Eurocity aus Mailand fährt in den Bahnhof ein. Die Jugendlichen lösen den Blick von ihren Bildschirmen, der ältere Mann faltet die Pendlerzeitung zusammen und klemmt sie sich unter den Arm. Synchron fahren die Trittbretter aus und die Zugtüren öffnen sich.
Die Uniformierten bleiben noch eine Weile stehen, recken die Hälse und schauen, wer aus dem Zug steigt. Dann schwingen sie sich routinierten Schrittes ins Innere. Sogleich richten sich sämtliche Blicke der Passagiere auf die zwei Autoritätspersonen. Einige beginnen hastig in ihren Taschen oder Rucksäcken nach dem Pass zu suchen. Doch für den interessieren sich die Grenzwächter nicht.
Zielgerichtet scannen sie mit schnellen Blicken Abteil um Abteil, werfen Blicke in versteckte Zwischenräume und Gepäckablagen, klopfen an WC-Türen. Einen jungen Mann mit mehreren Einkaufstüten beten sie, sich auszuweisen. Mit zittrigen Fingern klaubt dieser einen aserbaidschanischen Pass hervor und hält ihn den Polizisten hin.
Ohne den Mann anzuschauen, durchblättern sie die einzelnen Seiten des Dokuments und stellen eine Reihe von Fragen. Folgsam antwortet der Mann den Grenzwächtern: Ja, er habe in Mailand eingekauft. Ein Parfüm für seine Freundin, die in Lugano wohne. Ja, er sei jetzt auf dem Weg dorthin. Nach einer Weile erhält er seinen Pass zurück und die Grenzwächter lassen von ihm ab.
Am Bahnhof von Lausanne steht Laurin. Er ist 28 Jahre alt und Gleisarbeiter. Sein grelloranger Overall steht im farblichen Kontrast zum Betongrau des Perrons. Wie für viele andere Bewohner der Stadt, die nicht überdurchschnittlich viel verdienen, ist auch bei Laurin monatliche Belastung durch die Krankenkassenprämie jüngst etwas gesunken.
Als einziger Kanton in der Schweiz hat der Kanton Waadt per Anfang Jahr die monatlichen Prämien plafoniert. Seither bezahlen die hiesigen Einwohner maximal zehn Prozent ihres Einkommens für die Krankenkasse. Noch 2018 verzeichnete die Waadt mit 6,4 Prozent den höchsten Anstieg der Krankenkassenprämien in der ganzen Schweiz.
Auf die neue Krankenkassenregelung angesprochen, sagt Gleisarbeiter Laurin: «Klar bin ich froh, wenn ich Ende Monats ein bisschen mehr Spielraum habe.» Ob auch andere Kantone dem Beispiel Waadt folgen, wird wohl das Schweizer Stimmvolk zu entscheiden haben. Nach dem Waadtländer Vorbild sammelt die SP seit Anfang Jahr Unterschriften für eine Initiative zur Deckelung der Krankenkassenprämien bei zehn Prozent des Einkommens.
Durch die Fenster dringt Kinderlärm ins Büro von Evaristo Crameri und Marielle Osthues. Die beiden teilen sich in Samedan nicht nur ein Zweierbüro, sondern auch die Aufgaben der Schulleitung der «Scoula Cumünela» , der Gemeindeschule. Die nahenden Wahlen seien bei den Schülern – die ältesten von ihnen sind 16-jährig – kein besonders grosses Thema. An die Klimademos in den Städten des Unterlands ist keine ihrer Schülerinnen angereist.
Die beiden Schulleiter beschäftigt das Thema vor den Wahlen hingegen. «Für mich hat die Klimapolitik oberste Priorität. Da fragt man sich schon, was mit unserem Planeten geschehen wird», sagt Crameri. Seine Kollegin Osthues nickt zustimmend. Sie treibt auch die Chancengleichheit um. «Ich möchte, dass alle unsere Schüler, überhaupt alle Menschen in der Schweiz, einen Platz finden in der Gesellschaft», sagt Marielle Osthues.
Doch noch mehr als die Politik sind Crameri und Osthues mit den Veränderungen im Bildungswesen beschäftigt. Über 20 Jahre arbeiten Crameri und Osthues schon im Lehrerberuf. Vieles ist anders geworden: Das Bildungssystem bürokratischer, Abläufe sind standardisierter, Lehrpläne moderner.
Die grösste Veränderungen habe aber die Digitalisierung verursacht, sagt Crameri. Er sieht darin viel Positives, nicht nur in Bezug auf die Unterrichtsmittel. «Auch das Wissen hat bei den Schülerinnen und Schülern insgesamt zugenommen. Sie wissen was läuft und wo sie sich informieren können.» Andererseits gebe es auch Fälle von Cyber-Mobbing, bis hin zu Sexting. «Wir leben hier oben nicht in einer heilen Welt. Wir teilen viele Herausforderungen mit den Schulen in städtischen Gebieten im Unterland.»
In einem unterscheidet sich die Situation in Samedan aber. Der gebürtige Puschlaver Crameri und seine Kollegin Marielle Osthues, die aus dem Unterland ins Engadin gezogen ist, leiten eine zweisprachige Schule. 50 Prozent des Unterrichts finden auf Deutsch, 50 Prozent auf Rätoromanisch statt.
Nur 35’000 Personen sind rätoromanischer Muttersprache. Puter, das Idiom das in der Region Samedan gesprochen wird, beherrschen nur wenige Tausend Personen: «Das macht die Suche nach geeigneten Lehrpersonen natürlich schwierig», sagt Osthues. Doch Studien zeigten, dass die Schülerinnen und Schüler in Samedan am Ende ihrer Schulzeit sowohl Romanisch als auch Deutsch gut beherrschten, egal welche Sprache bei ihnen zuhause gesprochen wird.
Im obersten Stock des Altersheims Schärmtanne in Sigriswil, direkt unter dem Dach, wohnt die 89-jährige Maria Müller. Von ihrem Zimmer kann sie auf den Thunersee schauen. «Viele der Bewohner wollen entweder sterben oder wieder nach Hause», sagt Müller.
Im Gegensatz zu ihren Zimmernachbarn hat sie ihren Eintritt ins Alters- und Pflegeheim schon länger geplant. Als sie noch in ihrem Haus wohnte, kam sie jeweils am Mittag in die Schärmtanne essen. Als das Dachzimmer, welches sie unbedingt wollte, frei wurde, räumte sie innerhalb von einem Monat das Haus und ging im Alter von 80 Jahren ins Altersheim. «Alle sagten: ‹Jetzt spinnst du! Du hast so ein schönes Haus und gehst schon ins Altersheim.› Aber ich wollte das so.» Die Vorsorge der meisten Senioren sei eine Utopie. «Mein Bruder ist so ein ‹Mürgu›, er will partout nicht ins Altersheim. Bis er muss.» Dabei könnte er froh sein: Im Altersheim würde für sie gekocht, gewaschen und es schaue rund um die Uhr jemand für einen.
Die 89-Jährige hat den Kampf um die Einführung der AHV hautnah miterlebt: Ihr Vater war Sozialdemokrat und hat die Abstimmung mitlanciert. «Als sie 1947 endlich angenommen wurde, hatten wir so Freude!» Deshalb hätte sie die AHV-Rente besonders schätzen gelernt. «Sie ist ein Geschenk.»
Unterhalb des Fensters von Maria Müller geht es gemächlich zu und her. Dorfstrasse, Kirchgässli, Raftstrasse, Vikar-Kuhn-Weg: Auf den Strassen von Sigriswil ist es ausgesprochen ruhig, man begegnet kaum einem Passanten. «Es war ‹Chäseteilet› letztes Wochenende», sagt eine Dorfbewohnerin. Es seien sich wohl die meisten noch davon am Erholen. Am Dorffest wird der Käse, der während dem Sommer auf der Alp hergestellt wurde, auf die Bauern verteilt.
Weiter geht der Streifzug durch das pittoreske Dorf. Vorbei an einem Schuppen an dem Wahlplakate hängen – ausschliesslich solche von SVP-Politikern. Aus Sigriswil kommt ein Schwergewicht der Partei: Der ehemalige SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz war hier einst Gemeindepräsident. Doch auch er nimmt es in Zukunft ruhiger: Zu den Wahlen im Oktober tritt Amstutz nicht mehr an.
Etwas mehr los ist an der Tessiner Grenze. Hier herrscht täglich Hochbetrieb. Jeden Morgen pendeln 66'000 Italiener über die Grenze zu ihrer Arbeitsstelle in der Schweiz und am Abend wieder zurück. In keinem anderen Kanton ist die Dichte an Grenzgängern so hoch wie hier. Die italienischen Grenzgänger machen 27 Prozent aller Erwerbstätigen im Tessin aus, in Chiasso sind es sogar fast 50 Prozent.
Aber nicht nur bei der regulären, auch bei der irregulären Migration verzeichnet der Südkanton die höchsten Zahlen. Über keine andere Schweizer Grenze reisen mehr Flüchtlinge in die Schweiz ein als über jene in Chiasso. Pro Monat halten die Tessiner Grenzwächter rund 300 Personen an, die ohne gültige Papiere in die Schweiz einreisen. «Rechtswidriger Aufenthalt», wird das im Fachjargon genannt.
Vergangenes Jahr gab es im Tessin insgesamt 5600 solche rechtswidrigen Aufenthalte. Doch solche Zahlen bringen weder die Grenzwächter, noch die Tessiner aus der Ruhe. Das ständige Kommen und Gehen ist hier alltägliche Normalität.
Anders war das im Sommer 2016. Im August stoppten die Grenzwächter 6200 Personen, die versuchten, ohne Papiere in die Schweiz einzureisen. Ende Jahr waren es insgesamt 34'000 festgestellte irreguläre Einreisen. Damals hätten sich die Grenzwächter wohl gewünscht, ab und zu mit einem Aserbaidschaner über das Parfüm seiner Freundin zu plaudern. Die Realität sah allerdings ganz anders aus.
Mittagspause im Restaurant Adler in Sigriswil. Kaum tritt die Städterin ein, verstummen die Männer am Stammtisch. «Ganz schwarz ahgleit?», kommentiert einer die Kleidung des unbekannten Gasts. Nach längerem Mustern gehen ihre Stammtisch-Gespräche weiter. In der anderen Restaurant-Hälfte sitzen ältere Menschen am Tisch und studieren das heutige Mittagsmenü. Es scheint, als würden die Einwohner öfters im Adler essen.
«Ich verliere von Tag zu Tag mehr Haare», sagt eine Frau am Tisch nebenan zu ihrer Freundin, während die Männer über Funkgeräte fachsimpeln. Nach einer «Chässchnitte» mit Spiegelei wartet die Attraktion von Sigriswil: Die Hängebrücke über die Gumischlucht. Ein Dorfbewohner erzählt vom Hype, der ausgelöst worden sei, seit sie Schauplatz in der Fernsehsendung «SRF bi de Lüt» war. Nun besuchten zahlreiche Touristen die Panoramabrücke mit Sicht auf den Niesen und das Stockhorn.
Patrick Benz sitzt im Büro des Grenzwachtkorps in Chiasso und legt Fotos auf den Tisch. Er ist Chef des Fachbereichs Migration und verkörpert damit die Schnittstelle zwischen der Eidgenössischen Zollverwaltung und dem Staatssekretariat für Migration. «Die Zeit im Sommer 2016 war intensiv und manchmal auch belastend», erinnert er sich.
Er tippt auf eines der Fotos. Darauf zu sehen ist der Bahnhof Chiasso und dutzende Flüchtlinge, die auf dem Perron sitzen. Darunter Kinder. Nach der Schliessung der Balkanroute nahm die Migration über das Mittelmeer im Sommer 2016 wieder zu. Tausende landeten auf den süditalienischen Inseln und wurden auf das italienische Festland gebracht. Von dort wollten sie weiter Richtung Norden, viele nach Deutschland, Schweden oder England.
Mehrere europäische Länder begannen ihre Grenzen zu schliessen. Als Frankreich und Österreich dicht machten, wurde die Grenze im Tessin zum Flaschenhals. Es war der letzte und einzige Weg, der von Italien nach Europa führte. Was dann geschah, generierte Bilder, die vielen noch gut in Erinnerung sein dürften.
Auf der italienischen Seite der Tessiner Grenze campierten Flüchtlinge auf dem nackten Boden am Bahnhof oder in einem Park. Der Auftrag der Schweizer Grenzwächter lautete, alle, die in der Schweiz kein Asylgesuch stellen wollten, nach Italien zurückzubringen. Durchreisen lassen konnten sie die Flüchtlinge nicht. Kurzerhand wurde ein altes Gebäude am Bahnhof Chiasso zu einer Anlaufstelle umfunktioniert. Benz legt ein weiteres Foto auf den Tisch und sagt: «Sehen Sie hier. In diesem Raum sassen manchmal bis zu 200 Menschen, die darauf warteten, von uns befragt zu werden.»
2 Avenue des Casernes, oberhalb des Stadtzentrums, direkt neben dem alternden Stade de la Pontaise, wo der Fussballverein Lausanne-Sport noch bis im Sommer 2020 seine Heimspiele austrägt. Das Büro von Rebecca Ruiz ist ordentlich aufgeräumt, an den Wänden stehen Regale von USM-Haller.
Seit Mai dieses Jahres ist Ruiz Gesundheitsdirektorin des Kantons Waadt. Die Sozialdemokratin übernahm das Amt von ihrem Vorgänger und Parteikollegen Pierre-Yves Maillard. «PYM», wie der machtbewusste Maillard in Waadt auch genannt wird, setzte durch, dass die Höhe der Krankenkassenprämien auf maximal zehn Prozent des monatlichen Haushaltseinkommens begrenzt wurden.
Die Finanzierung dafür sicherte sich Maillard im Rahmen eines Deals bei der kantonalen Umsetzung der Unternehmenssteuerreform. Um für die Senkung der Firmensteuern einen sozialen und politischen Ausgleich zu schaffen, beschloss der Kanton eine Verringerung der Prämienlast für die Bevölkerung.
Geht es nach der SP Schweiz, soll das Beispiel Schule machen: Die Partei sammelt derzeit Unterschriften für eine Volksinitiative. Damit will sie das Waadtländer Modell in allen Kantonen durchsetzen. Der Initiativtext sieht eine Obergrenze für die Prämienlast von maximal zehn Prozent des Haushaltseinkommens vor.
«Das Geld dafür ist vorhanden», sagt Maillards Nachfolgerin Rebecca Ruiz in ihrem Lausanner Büro. Die 37-Jährige verweist auf die Überschüsse in Milliardenhöhe, welche der Bund seit Jahren erzielt. Doch mit mehr Prämienverbilligungen allein sei es nicht getan: «Man muss pragmatisch sein und den Familien bei der Prämienbelastung konkret unter die Arme greifen und gleichzeitig auch die Gesundheitskosten senken.»
Im südlichsten Zipfel der Schweiz stösst Grenzwächter Patrick Benz die Türe zur Anlaufstelle im Bahnhof Chiasso auf. Die Halle ist leer, bis auf zwei Mitarbeiter der Zollverwaltung und einen Mann, der etwas zusammengesunken auf der Bank sitzt. Auf seinem Schoss liegt ein Rucksack, den er mit beiden Armen an sich presst.
«Aus Libyen. Wir haben ihn aus dem Zug geholt, weil er keine Papiere für die Schweiz hat», sagt der eine Mitarbeiter und deutet mit dem Kopf in Richtung des Mannes. Den Grenzwächtern habe er angegeben, er wolle in die Schweiz, weil er hier bessere Möglichkeiten habe. In Italien schlafe er auf der Strasse. Die Beamten müssen nun feststellen, ob der Mann in der Schweiz ein Asylgesuch stellen will oder nicht. Falls nicht, wird er ihren italienischen Kollegen übergeben.
Draussen fährt der Regionalzug S11 aus Como kommend ein. Vornehmlich Pendler steigen aus, gehen zielstrebigen Schrittes auf die Bahnhofshalle zu. Einige grüssen die zwei Grenzwächter, die sich an der Ecke des Gebäudes postiert haben. Man kennt sich. Die Nähe zur Grenze und diese ständig zu passieren ist für die Bewohner von Chiasso so unspektakulär wie für die Lausanner der tägliche Blick über den Lac Léman zum französischen Ufer.
Auf dem Place de la Gare in Lausanne wartet Paula auf ihren Bus. Auf das Schweizer Gesundheitssystem angesprochen, reagiert sie genervt. Sie winkt ab. Wie so viele finanziell schlechter gestellte Personen hat sie die Franchise erhöht, um damit die monatliche Prämie zu drosseln.
Aber was ist, wenn sie mal krank ist? «Dann überlege ich mir zweimal, ob ich wirklich zum Arzt muss. Wenn es sich nicht um einen äussersten Notfall handelt, kuriere ich mich so gut es geht selbst aus.» Mehr will sie zum Thema nicht sagen. Als ihr Bus heranrollt, schlüpft sie schnell ins Innere.
Für Rebbeca Ruiz, die Vorsteherin des Waadtländer Gesundheitsdepartements, ist Paula ein Paradebeispiel dafür, warum Gesundheitspolitik nicht kurzsichtig sein darf: «Wenn wir in Gesundheitsbelangen sparen, kommt uns das zuletzt teuer zu stehen.» Erkrankt Paula eines Tages ernsthaft, lägen die Kosten für eine Operation oder einen Spitalaufenthalt weit über denjenigen eines aus Kostengründen versäumten Vorsorgebesuchs. «Prävention kostet, spart am Ende aber Geld», sagt die 37-jährige Sozialdemokratin.
Kommendes Jahr sinken die Prämien im Kanton Waadt. Entwarnung in Lausanne, also? «Sicher nicht», sagt Ruiz in ihrem Büro an der Avenue des Casernes. «Es ist ja nicht so, als läge die Prämie plötzlich bei 200 statt 400 Franken. Nächstes Jahr bezahlt ein Erwachsener unserem Kanton monatlich 421 Franken für seine Krankenkasse. Das ist immer noch enorm viel Geld. Zu viel Geld.»
Kurz vor 17 Uhr ist es ruhig geworden in der «Scoula Cumünela». Die meisten Schülerinnen und Schüler sind nach Hause gegangen. Dafür ist Annigna Nick für ein Gespräch erschienen. Seit 2008 sitzt sie im Gemeindevorstand von Samedan. Zuständig ist das FDP-Mitglied für das Ressort Umwelt.
Der Klimawandel mache auch vor Samedan nicht halt. «Das Wetter hat sich verändert, das merkt man hier oben», sagt Nick. Dass sich die Bevölkerung mit dem Thema befasse, merke die Gemeinde etwa an den Baugesuchen. Energieeffizienz sei für die Bauherren wichtiger geworden.
Auch die Behörden machten sich Gedanken über die möglichen Veränderungen. In der konkreten Gemeindepolitik steht der Klimawandel aber nicht im Vordergrund. «Ich befasse mich mit Themen wie Abfallmanagement, Recycling oder der Trinkwasseraufbereitung», erklärt Annigna Nick.
Die Bevölkerung beschäftige vor den Wahlen auch andere Themen. «Im Engadin sind Arbeitsplätze immer eine Sorge». Für sie seien deshalb gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft das wichtigste Thema im Hinblick auf die Wahlen. Gerade für Leute mit guter Ausbildung gebe es im Oberengadin zu wenig adäquate Jobs. «Viele ziehen deshalb ins Unterland.» Darunter auch Romanischsprechende. «Das macht die Zukunft der Sprache nicht einfacher», meint die 39-Jährige, die zuhause auch Romanisch spricht.
Bei Abstimmungen sei Samedan jeweils ein guter Gradmesser. Die Gemeinde stimme oft so ab, wie es auch die Schweiz als Ganzes tue. Vor den Wahlen schlägt das politische Thermometer auch im Klimajahr 2019 nicht nach oben aus, beobachtet Nick. Das Leben gehe seinen gewohnten Gang: «Bei uns ist alles immer nur halb so schlimm wie anderswo».