Der Ständerat hat heute mit einem historischen Beschluss entschieden, dass sämtliche Abstimmungen in der «kleinen Kammer» transparent veröffentlicht werden – die Abstimmung endete mit 32:10. Das ist insofern historisch, als der Ständerat das 173 Jahre lang nicht tat: Das «Stöckli», wie die andere Parlamentskammer neben dem Nationalrat auch genannt wird, lehnte dies stets aus traditionellen Gründen ab.
Gemeint war der Ruf des Ständerats als «Chambre de Réflexion»: Während im Nationalrat teilweise während Debatten getobt und gewütet wurde, besannen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Kantone auf andere Werte. Es herrschte die Vorstellung, im Ständerat würden Kompromisse geschmiedet, Brücken gebaut und Extremlösungen abgeschwächt. Der Ständerat lehnte deshalb auch regelmässig Veränderungen bei sich selbst ab.
Davon betroffen war auch die Transparenzfrage: Der Nationalrat führte ein elektronisches Abstimmungssystem um die Jahrtausendwende herum ein. Zuvor dauerten Abstimmungen eine gefühlte Ewigkeit, etwa dann, wenn «namentlich» protokolliert wurde, wer wie abstimmte. So ist dank solchen Daten bekannt, dass der ehemalige SVP-Politiker Christoph Blocher der Nationalratsabstimmung über den EWR-Beitritt fernblieb – um kurz darauf den Kampf für ein «Nein» zu seinem Lebensprojekt zu erklären.
Drüben im Ständerat verzichtete man aber auf diesen Schritt: Mit ein bisschen weniger Transparenz seien einfacher Kompromisse möglich, so die Begründung. Ein Linker könnte eher mit den Rechten stimmen, wenn er sich nicht öffentlich dafür rechtfertigen müsse – und umgekehrt. Rückblickend erwies sich diese Haltung aber als fatal.
So zeigten Recherchen des Autors dieses Artikels im Jahr 2012, damals noch als Datenjournalist bei «Politnetz.ch», dass das händische Auszählen von Abstimmungen fehleranfällig war. So konnten sich die Stimmenzählenden «verzählen» und ein Gesetz bodigen, obwohl sich Ständerätinnen und Ständeräte dafür aussprachen.
Der damalige «Politnetz.ch»-Geschäftsführer Thomas Bigliel, der in dieser Zeit zusammen mit dem Autor als «externer Stimmenzähler» auf der Ständeratstribüne sass, erinnert sich: «Pikanterweise passierte das gerade bei einem emotional geladenen Geschäft: Es ging um das Importverbot von Reptilienhäuten aus tierquälerischer Produktion. Wir zählten ein knappes ‹Ja›, der Ständerat jedoch nach Stichentscheid ein ‹Nein›. Sowas durfte nicht passieren, entsprechend gab es landesweit Häme, so etwa bei ‹Giacobbo/Müller› oder ein paar Wochen später bei den Fastnachts-Schnitzelbänken.»
Der Skandal führte zu einem öffentlichen Druck, worauf der Ständerat eine Mini-Revolution beschloss: Die elektronische Abstimmungsanlage wurde auch im «Stöckli» eingebaut.
Den Ständeräten blieb angesichts des eindeutigen Videobeweises nichts anderes übrig, sagt der Schaffhauser Politbeobachter Claudio Kuster: «Das Videomaterial zeigte klar auf, dass falsch gezählt wurde. Viele Ständeräte, insbesondere Präsident und Stimmenzähler, fühlten sich aber durch die Recherche entblösst, ja gar persönlich angegriffen.» Kuster verfolgt als Sekretär des parteilosen Ständerats Thomas Minder diese Entwicklung seit Jahren.
Obwohl nun auch hier digital abgestimmt wurde, fehlten aus Sicht der Transparenz einige Daten: Publiziert wurden nur die sogenannten Schluss- und Gesamtabstimmungen. Dort, wo es um Detailfragen und Einzelheiten eines Gesetzes ging, blieben die Abstimmungsdaten geheim.
Diese Ausnahme wurde nun gestrichen: Ab nächstes Jahr wird jede Abstimmung im Ständerat veröffentlicht. Für den Politbeobachter Kuster ist dieser Entscheid überfällig: «Das war schon vor acht Jahren klar, als für Hunderttausende von Franken das IT-System dafür eingebaut wurde. Rückblickend ist es aber auch verständlich, dass die vollständige Transparenz nun in zwei Schritten kam: So verlor die frühere Generation der Ständeräte, die noch sehr an den Traditionen hing, nicht komplett ihr Gesicht.»
Kuster meint damit unter anderem den damaligen Ständeratspräsidenten Filippo Lombardi (damals CVP): «Er wehrte sich besonders vehement gegen die elektronische Abstimmungsanlage: Zuerst wollte er die Transparenzmacher von Politnetz aus dem Bundeshaus rauswerfen, am Ende inszenierte er sich medial mit einem Zählrahmen.»
Der Skandal damals führte aber dazu, dass die neu gewonnene Transparenz im Ständerat schweizweit Ausstrahlkraft hatte. So folgten einige Kantone und Städte dem Beispiel des Ständerats und führten in ihren eigenen Parlamenten Transparenz bei den Abstimmungen ein. Der heutige Entscheid, den übrigens der parteilose Ständerat Thomas Minder in einem Vorstoss gefordert hatte, dürfte auch auf europäischer Ebene Wirkung haben.
Die Schweiz erfüllt künftig eine Empfehlung der Anti-Korruptionsgruppe des Europarates (Greco), die zuletzt 2017 die fehlende Transparenz beim Schweizer Parlament kritisiert hatte. Kosten dürfte diese zusätzliche Transparenz übrigens nichts: Es muss lediglich ein Schalter umgelegt werden.