Die Fahrt mit der Deutschen Bahn nach Neuwied in Rheinland-Pfalz dauert länger als geplant: eine Stunde Verspätung. Doch Omar Jneid kann sich auch die neue Ankunftszeit einrichten, obwohl er an diesem Tag den 17. Geburtstag seines ältesten Sohnes Mohamed mitorganisiert und den zweitältesten, Ahmed, gerade von der Schule abholt. Pünktlich fährt er mit seinem Auto am Bahnhof vor.
Am Innenspiegel baumelt ein gestrickter Pulswärmer mit einem roten Stern und den syrischen Nationalfarben Grün, Weiss, Schwarz. Darunter schwingt eine Halskette mit einem islamischen Halbmond hin und her.
Der 43-Jährige steuert den Wagen konzentriert durch die Strassen. Er hat erst seit wenigen Monaten den deutschen Führerausweis und zieht ihn zum Beweis feierlich aus seinem Portemonnaie. In seiner Heimat Syrien durfte er einst Auto fahren, doch hier musste er die Prüfung nochmals absolvieren. Dass er sie bestanden hat, ist einer seiner Integrationserfolge in Deutschland – einer von wenigen.
Omar spricht Arabisch, Suha schweigt auf dem Beifahrersitz und Ahmed übersetzt auf der Rückbank. Der 12-Jährige erzählt fröhlich von der Schule – gut sei er in Mathematik, in Deutsch weniger – und er erklärt das Bildungssystem. Es gibt die Realschule «für die Schlauen» und die Hauptschule «für alle anderen». Er besucht die Realschule.
Die Familie hat fünf Kinder. Alle haben Erfolg in der Schule. Die vier Söhne spielen zudem Fussball im Ortsverein, während die einzige Tochter im Eiskunstlauf glänzt. Die Eltern hingegen sind nach ihrer langen Reise immer noch nicht richtig angekommen und schlagen sich mit Übersetzungsapps und Dolmetschern durch.
Diese Rolle übernimmt Tochter Malek beim Gespräch im Wohnzimmer. Ein Kopftuch rahmt das Gesicht der 15-Jährigen ein. Sie zeigt auf die Fotos der beiden Grossväter, die über dem Fernsehbildschirm thronen. Auf die Frage, warum die Grossmütter fehlen, lacht sie und meint, hier stünden halt die Männer im Vordergrund.
Omar zeigt auf seinem Handy ein Bild einer Trümmerlandschaft aus dem Jahr 2016. Das war ihr Haus in Aleppo. Zerbombt von russischen Kampfjets.
Ihre Vergangenheit ist zerstört. Dennoch sieht die Familie dort nach dem Sturz des Diktators Baschar al-Assad ihre Zukunft. «Wir wollen zurück nach Syrien», sagt Omar Jneid. Die Kinder nicken.
Deutschland wurde zwar zu ihrer zweiten Heimat. «Wir sind hier mega glücklich», sagt Malek. Doch sie sind bereit, alles hier aufzugeben, ihr Haus mit Trampolin im Vorgarten und selbst den geliebten Fussballverein.
Dies liegt auch daran, dass sich die Familie hier trotz allem manchmal fremd fühlt. Zum Beispiel wenn die Leute tuscheln wegen der Kopftücher oder ihrer arabischen Sprache. Oder wenn sie an Ramadan ermahnt werden, wenn sie zu laut feiern. Oder wenn sie Assads Sturz auf den Strassen in Deutschland bejubeln und erneut an die sonntägliche Nachtruhe erinnert werden.
Der Familie liegt es aber fern, sich über ihre neue Heimat zu beklagen. Der Hauptgrund für ihre Reisepläne ist ein anderer: die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat. «Wir möchten unseren Beitrag für den Wiederaufbau Syriens leisten», sagt Omar. Er hat einen Abschluss der Universität von Aleppo und möchte wieder wie früher an einer Oberstufe Arabisch und Englisch unterrichten; der syrischen Jugend eine Perspektive geben.
Bis im nächsten Sommer bleibe die Familie sicher noch in Deutschland, damit die ältesten Kinder ihren Schulabschluss machen können. Danach planen sie die Sommerferien in Aleppo. Und wenn es die Sicherheitslage erlaubt, möchten sie dann für immer bleiben.
Sorgen bereitet den Eltern nicht die islamistische Kampftruppe, die Assad verjagt hat und nun alle Vertriebenen zu einer Rückkehr in das befreite Land auffordert. Sie vertrauen den Rebellen, die sich von ihrer terroristischen Vergangenheit distanziert haben und sich nun moderat geben.
Omar Jneid tippt einen Satz in seine Übersetzungsapp: «Die syrische Gesellschaft ist tolerant.» Und er erzählt, dass er soeben mit einem christlichen Freund in Aleppo telefoniert habe. Dieser könne sich sicher und frei in der Stadt bewegen.
Die Familie Jneid hat eine andere Sorge. Sie befürchtet, dass Putin und Assad das Land wieder angreifen könnten. Deshalb will sie nun zuerst die Entwicklung beobachten.
Auch die Schweizer Migrationsbehörden warten ab. Sie haben nach dem Umsturz alle syrischen Asylverfahren sistiert und bearbeiten neue Gesuche erst wieder, wenn sich die Lage geklärt hat. Die Schweizer Flüchtlingshilfe kritisiert diesen Entscheid, da er zu «unnötiger Unsicherheit» führe. Die SVP drängt derweil auf eine rasche Rückkehr aller vorläufig Aufgenommenen aus Syrien, während sich die FDP skeptisch äusserte, ob sich die Lage unter den Islamisten tatsächlich verbessern werde.
Die Geschichte der Familie Jneid zeigt, dass es auch Geflüchtete gibt, die Asyl erhalten haben und jetzt über eine Rückreise nachdenken. Ihre Heimkehr wäre das Ende einer Odyssee, die in der Schweiz vor zehn Jahren als «Schande von Brig» Schlagzeilen machte. Zehn Jahre benötigte die Schweizer Justiz für deren Aufarbeitung. Nun ist sie endlich abgeschlossen.
Die Reise begann mit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011. Die Familie musste Aleppo verlassen und suchte zuerst in Libyen ein neues Zuhause. Doch als 2014 auch dort ein Bürgerkrieg ausbrach, sah sie nur noch einen Ausweg: eine Bootsfahrt übers Mittelmeer. Besonders gefährlich war diese für Suha Jneid. Sie war in der 27. Woche schwanger mit ihrem vierten Kind.
Am 4. Juli stoppte ein Team der Schweizer Grenzwache die Familie auf der Durchreise nach Frankreich und brachte sie nach Brig, wo sie auf die Rückfahrt nach Domodossola warten musste. Suha, damals erst 22 Jahre alt, klagte über Bauchschmerzen. Auf ihrer Hose bildete sich ein Blutfleck.
Omar bat die Grenzwächter um medizinische Hilfe. Doch der Einsatzleiter hielt am Fahrplan fest. Wer schwanger illegal durch Europa reisen könne, schaffe auch noch diese kurze Strecke, befand er.
In Italien stellten Ärzte den Tod des Babys fest. Die Eltern gaben ihm den Namen Sara und begruben es auf dem Friedhof von Domodossola in einem kleinen, weissen Sarg.
Die Militärjustiz verurteilte die Grenzwächter wegen Körperverletzung, weil sie die Frau leiden liessen. Das Gericht ging aber davon aus, dass das Baby in Brig schon tot war, und sah deshalb von einer Verurteilung wegen Tötung ab.
Auf die strafrechtliche Aufarbeitung folgte die zivilrechtliche. Die Familie forderte eine Genugtuung von 885'000 Franken. Doch das Finanzdepartement wollte keinen Franken zahlen. Schliesslich erstritt die Familie Schmerzensgelder von 12'000 Franken für Suha und nun auch noch 1000 Franken für Omar. In einem wegweisenden Urteil entschied das Bundesgericht kürzlich letztinstanzlich, dass auch der Vater als Direktbetroffener des Leids einzustufen sei.
Nun äussert sich die Familie dazu. «Wir sind enttäuscht», sagt Omar Jneid. Ihn störe vor allem, dass die Schweizer Behörden nie das Gespräch mit ihnen gesucht hätten.
Für die Familie, die von der Sozialhilfe lebt, kommt die Überweisung nun allerdings zu einem günstigen Zeitpunkt. «Mit dem Geld wollen wir den Wiederaufbau unseres Hauses in Syrien mitfinanzieren», sagt er.
Für Malek, die diesen Satz übersetzt hat, ist die Geschichte aus Domodossola traurig, aber weit weg. Sie war damals im Kindergartenalter. Ihre Mutter Suha leidet hingegen noch heute darunter. Sie brach damals psychisch zusammen, ihre Haare fielen aus und Schuppenflechte breitete sich auf ihrer Haut aus. Während des Gesprächs bereitet die 32-Jährige in der Küche das Geburtstagsessen vor und überlässt das Reden ihrer Tochter.
Malek sagt: «Sie ist zu oft traurig. Sie versucht, es uns nicht zu zeigen, aber wir spüren es schon.» Hinzu kommt, dass die Mutter das isolierteste Leben der Familie führt. Ausserhalb hat sie kaum Kontakte. Das ist auch einer der Gründe, warum die Familie ihre Hoffnung in eine Rückkehr nach Syrien setzt. Suhas Verwandtschaft lebt immer noch dort, während Omars übrige Familie in Deutschland wohnt. Deshalb kamen sie alle hierher.
Auf der Rückfahrt zum Bahnhof begleitet diesmal Ibrahim seinen Vater im Auto. Während die älteren Geschwister in Aleppo zur Welt kamen und der Jüngste in Neuwied geboren wurde, ist Ibrahim ein Kind der langen Reise. Sein Geburtsort ist Domodossola, wo die Familie einen mehrjährigen Zwischenhalt einlegen musste. Er strahlt auf dem Rücksitz. «Das mache ich am liebsten», sagt er, «mit meinem Vater Auto fahren.» Zusammen mit ihm würde er überall hinreisen.
Wer bezahlt das Auto und die Autoprüfung? Wird das in Deutschland alles über die Sozialhilfe finanziert?