Zum ersten Mal tauchen die Wölfe im Mai 2018 auf. Auf der Alp Durnan oberhalb von Sufers reissen sie einen jungen Hirsch. Sie werden dabei von einer Privatperson beobachtet und fotografiert. Später werden sie einen Namen erhalten, M92 der Rüde, F37 die Fähe; es sind Namen, in denen schon einiges steckt, weil sie dafür stehen, was in dieser Geschichte aufeinanderprallt: hier ein wildes Tier. Dort ein Staat, der es sich gewohnt ist, über alles die Kontrolle zu haben. Und erst einmal durchnummeriert.
Doch an diesem Tag im Mai kennt die Tiere noch niemand, und wo sie herkommen, darüber können bis heute nur Vermutungen angestellt werden.
M92 und F37 haben gemacht, was Wölfe tun, weil es in ihrer Natur liegt. Sie haben ihr Rudel verlassen, um sich selbst fortzupflanzen. Irgendwann im Jahr 2018 finden sie zueinander. Es ist der Anfang des Beverin-Rudels, eines Rudels – das werden die nächsten Jahre zeigen –, wie es die Schweiz noch nie gesehen hat.
Eines Rudels, das Grenzen auslotet und überschreitet. Das sich verhält wie keines zuvor. Eines Rudels, für das sogar eine Verordnung umgeschrieben wird und das die Frage aufwirft, ob sein Verhalten ein Vorgeschmack auf das ist, was die Schweiz in Zukunft erwartet.
Etwas mehr als drei Jahre nach jenem Tag im Mai 2018 steht Hans Gartmann vor seinem Haus im Bündner Bergdorf Obertschappina. Er zeigt auf einen Grat, der zu einem kühn geformten Berggipfel führt: dem Piz Beverin. «Dort oben auf dem Grat habe ich einen grossen Teil des Rudels Mitte August das letzte Mal gesehen, sieben Welpen und ein Alttier», sagt er.
Drinnen im Haus hat er Bilder von jenem Nachmittag auf seinem Computer gespeichert. Es gibt auf seiner Festplatte noch viele andere Bilder vom Beverin-Rudel. Bilder von herumtollenden Welpen, Bilder des Leitrüden M92, als er in eine Fotofalle tappt. Niemand im Kanton Graubünden kennt das Beverin-Rudel so gut wie Hans Gartmann. Er ist Wildhüter im Jagdbezirk 3, Hinterrhein-Heinzenberg. Dem Streifgebiet der Wölfe.
Seit 42 Jahren ist Gartmann nun schon Wildhüter, davon 30 Jahre als Bezirkschef. Er übernahm diesen Posten von seinem Vater. Als dieser in den 1950er-Jahren angefangen hatte, trieben die tiefen Hirschbestände die Bündner um. Jetzt, im Jahr, in dem der Sohn pensioniert wird, dreht sich fast alles um den Wolf und das rasante Wachstum in Graubünden. 2020 gab es sieben Rudel; zwei Jahre zuvor waren es nur zwei.
Zum ersten Mal hat Gartmann 1998 einen Wolf gesehen. Bis heute kann er jedes Detail der Begegnung schildern, doch sie blieb lange nicht mehr als eine Anekdote. So richtig, sagt Gartmann, sei es mit dem Wolf erst 2018 losgegangen. Seither prägt das Beverin-Rudel seinen Alltag als Wildhüter.
In ihrem ersten gemeinsamen Jahr tauchen M92 und F37 an vielen Orten in Mittelbünden auf. Auf einer Alp ob Splügen werden zwischen Juli und Oktober fast 60 Schafe gerissen. DNA-Proben identifizieren M92 als Täter. Allerdings sind die Herden ungeschützt. Ein gefundenes Fressen für den Wolf. Und noch kein Verhalten, das problematisch wäre, auch wenn der Kanton später von einem «bereits beachtlichen Prädationsdruck» berichtet.
Doch das ist erst der Anfang. 2019 zeugen M92 und F37 zum ersten Mal Nachwuchs, mindestens neun Welpen – eine stolze Zahl. Das Rudel reisst erstmals Tiere aus geschützten Herden, insgesamt 16 Ziegen. Damit ist die gesetzlich vorgesehene Schadensgrenze erreicht. Der Kanton erhält vom Bund die Erlaubnis, vier Jungwölfe zu schiessen. Im Herbst 2019 erwischen die Bündner Wildhüter drei Tiere, ein weiteres wird von einem Auto überfahren.
Auch Hans Gartmann ist bei einem der Abschüsse dabei, im November nahe dem Dorf Masein. Auch der Leitwolf M92 hält sich dort auf. Das ist wichtig, weil eine Regulierung nicht einfach erfolgt, um den Wolfsbestand zu reduzieren. «Wir wollen die Tiere erziehen, ihnen beibringen, dass ihr Verhalten nicht geduldet werden kann», sagt Gartmann.
Deshalb werden die Wölfe geschossen, wenn sie sich gerade so verhalten, wie sie es eigentlich nicht sollten. Zum Beispiel Herdenschutzmassnahmen wie Zäune überwinden. Oder sich in Siedlungsnähe aufhalten. Es sind langwierige, komplizierte Aktionen, für die es viel Geduld braucht. Und die auch mal scheitern.
Die Wildhüter hoffen, dass die Abschüsse etwas bringen. Das Beverin-Rudel sein Verhalten anpasst. Doch die Hoffnung zerschlägt sich bald. Im Sommer 2020 reisst das Rudel wieder geschützte Schafe. Tötet ein Kalb und später, im September, gar einen Esel. So etwas hat es in der Schweiz noch nie gegeben. Der Kanton Graubünden ist alarmiert, will erneut Jungwölfe schiessen. Doch diesmal weist das Bundesamt für Umwelt das Gesuch zurück. Ein Esel als Schadenfall genügt laut Gesetz für den Abschuss nicht.
Das Jahr 2021 bringt das dritte Mal Nachwuchs für M92 und F37. Und das Beverin-Rudel, das schon das meistregulierte der Schweiz ist und jenes, das sich als Erstes an Esel wagte, sorgt für ein weiteres Novum: problematische Begegnungen mit dem Menschen. Zuerst sind da, innert einer Woche, zwei Zusammentreffen mit einer Hirtin. Dann berichten Touristen, dass sie im Streifgebiet des Rudels auf zwei ausgewachsene Tiere trafen und später auf vier Welpen, die ihnen folgten.
Der Kanton Graubünden hat nach den Zwischenfällen mit der Hirtin bereits ein neues Abschussgesuch nach Bern geschickt. Er will neue Wege gehen: Wenn der Bund seinem Gesuch zustimmt, werden die Bündner zum ersten Mal nicht nur Jungwölfe ins Visier nehmen. Sondern den Leitwolf M92, der nach den jüngsten Vorkommnissen endgültig als Problemwolf gilt.
Möglich macht das erst eine Verordnungsänderung, die im Juli in Kraft trat. Sie soll den Kantonen nach dem Nein zum Jagdgesetz neuen Handlungsspielraum beim Umgang mit dem Wolf geben – unter anderem den Abschuss von Elterntieren unter gewissen Umständen. Bei der Gruppe Wolf Schweiz spricht man von einer «Lex Beverin-Rudel». Ein einzelnes Rudel, das eine Verordnung umschreibt: Auch das gab es noch nie.
Wenn Wildhüter Hans Gartmann zu Hause in Obertschappina in seinem Bett liegt, hört er manchmal die Beveriner Wölfe heulen. Spricht er über seine Begegnungen mit ihnen, hört man heraus, dass ihn das Tier fasziniert. Doch Gartmann erlebt auch, wie viel Druck in seiner Heimat im Kessel ist; er bekommt ihn als Mann, der an beide denken muss, den Wolf und die lokale Bevölkerung, hautnah mit.
Er sieht, wie sehr die Akzeptanz im Kanton schwindet, gerade wegen M92 und seinem Rudel. Gartmann sagt, er habe aber auch Verständnis für Aussagen wie jene von Christa Buchli, der Präsidentin der Bündner Älpler. Sie sagt, man habe Angst, dass die Situation bald völlig eskaliere. Dass es an der Zeit sei, M92 in die Schranken zu weisen.
Gartmann betont, das Ziel sei das gleiche wie früher: die Koexistenz von Mensch und Wolf. «Doch die Erfahrungen mit M92 zeigen, dass wir dafür neue Wege finden müssen», sagt er.
In diesen Tagen erwarten sie in Graubünden Bescheid aus Bern. Der Kanton ist so etwas wie das Schweizer Wolfslabor, und wenn er tatsächlich die Erlaubnis erhält, erstmals einen Leitwolf zu schiessen, wäre das ein noch nie da gewesenes Experiment.
David Gerke, der Präsident der Gruppe Wolf Schweiz, sagt es so: «Es wäre eine Abkehr vom erzieherischen Regulieren – und hin zum Abschuss als letztes Mittel.» Gerke sagt, er habe ein gewisses Verständnis für die Bündner Pläne. Aber er sagt auch, dass das Beverin-Rudel zeige, dass dem Regulierungsansatz Grenzen gesetzt seien – und der Herdenschutz zentral bleibe.
Im Mai 2018 nahm die Geschichte von M92 und F37 ihren Anfang. Bald könnte sie zu Ende sein. Was dann aus dem Beverin-Rudel wird, weiss niemand. Vielleicht bleibt es zusammen. Vielleicht stösst eine neuer Rüde dazu. Und vielleicht zerfällt es auch einfach.
ChillDaHood
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