Verdächtig ist schon die Anfahrt am Feierabend. Obwohl Saint-Gingolph keine 1000 Einwohner beheimatet, ist die Hauptstrasse verstopft. Gut einen Kilometer stauen sich die Fahrzeuge am Ufer des Genfersees. Der Grund: Mitten zwischen den Häusern von Saint-Gingolph steht der schweizerisch-französische Zoll. Mittendrin! Obwohl die meisten Autos durchgewunken werden, kommt es zur Staubildung.
Die Landesgrenze mitten im Ort sorgt auch noch für andere aussergewöhnliche Situationen. In Saint-Gingolph gibt es vieles doppelt: Zwei Gemeindepräsidenten, zwei Postämter, zwei Behörden, zwei Schulen, zwei Schiffstege, zwei Strände. Alles einmal für Frankreich, einmal für die Schweiz. Selbst das Wappen wird einmal Rot eingefärbt (für die Schweiz), einmal Blau (für Frankreich).
Dazwischen fliesst ruhig die Morge ins Tal und den See. Diese trennt nicht nur den Kanton Wallis vom Departement Haute-Savoie, sondern bildet eben die Landesgrenze. Ganz so ruhig ist sie allerdings nicht immer. Am 1. Mai dieses Jahres trat sie über die Ufer und verwüstete das untere Dorfzentrum. Die Schäden sind noch sichtbar.
Alles baute man jedoch nicht zweifach. Die Kirche gibt es nur einmal, den Friedhof auch. Beides steht auf französischem Grund, wird aber von beiden Dorfteilen genutzt. Genauso vereint ist die Freizeitbeschäftigung. Fussballklub gibt es einen, Musikverein ebenfalls. Die Tourismusbehörde spielt gar mit dem Image der doppelten Nationalität. «L’accord parfait», den «perfekten Einklang» gebe es hier.
Auf der Strasse ist der Nationenwechsel trotzdem offensichtlich. Auf der Schweizer Seite steht die Raiffeisenbank, ein paar Meter weiter macht die Credit Agricole Geschäfte. Während man hüben bei Française des Jeux wettet, wird drüben Schweizer Lotto gespielt. Hier bezahle ich mein Hotel in Euro, ein paar Schritte weiter kostet mich das Nachtessen Schweizer Franken. Meine Gastgeberin lacht: «Bei uns kostet der Kaffee 1.50 Euro, im Schweizer Teil 3.20 Franken.»
Warum genau der Ort durch die Grenze geteilt wird, müsste man in den Annalen des 16. Jahrhunderts nachschauen. Schon die Römer besiedelten den Fleck hier wegen der Mineralquelle. Seit dem 12. Jahrhundert gehörte der Ort dann der damals französischen Abtei Abondance. die Walliser und Berner eroberten die Gegend aber 1536. Die Grenze wurde dann 1569 definitiv in einem Vertrag festgelegt. Zuvor trennte die Dranse bei Evian die (heutigen) Länder, danach eben die Morge.
Frühstück ist bei meiner Übernachtung nicht inbegriffen. Die Hotelbesitzerin gibt mir noch einen letzten Tipp: «Holen sie sich den Kaffee da vorne bei der Bäckerei noch kurz vor dem Zoll, ist billiger.»