>>> Am Sonntag endet die Tour dur d'Schwiiz auf der Älggialp. Die letzten beiden Mitfahrgelegenheiten bieten sich daher am Samstag und Sonntag. Einmal schön rund um Interlaken, einmal über den Brünig und dann die «Alpe d'Huez» der Tour hoch zum Mittelpunkt der Schweiz. Wer mitfahren will, bitte melden! Hier gibt's die Infos!
Seit vier Stunden bin ich auf der 91. Etappe unterwegs. Meine Füsse spüre ich vor Kälte nicht mehr. Sie fühlen sich an wie zwei Eisblöcke. Zudem habe ich Hunger. Keine Frage: Es ist Zeit für eine Pause. Ich strample gerade das Eriztal hoch. Eine Sackgasse an deren Ende Eriz liegt. Ich würde den 500-Einwohner-Ort als «hintersten Chrachen» bezeichnen.
Immerhin hat's ein Restaurant. Die Linde. Ich trete ein. Alles ist urchig in Holz gehalten. Es läuft ziemlich laut Ländlermusik. Passender könnte es nicht sein. Vorne sind vier Tische leer, hinten in der Laube liegt der Jassteppich auf einem der fünf Tische bereit und in der Mitte sitzen drei ältere Männer am Stammtisch.
Der älteste gibt sich als Wirt zu erkennen. Bedächtig steht er auf, ich schätze ihn auf über 80. Ich bestelle einen Punsch und bin nicht sicher, ob er mich verstanden hat. Der Gastgeber kramt im Kühlschrank und greift nach einem Schorle. ich schüttle den Kopf und sage: «Dann lieber einen Tee.» Er nickt, ich setze mich neben den Stammtisch.
Die beiden anderen Herren lachen. Sie sind ebenfalls das erste Mal hier. Eigentlich wollten sie Steinpilze suchen. «Aber es hat nichts. Das Wetter war wohl zu trocken.» Sie scheinen schon einen Moment da zu sitzen. Den Wirt rufen sie Fritz. Ich frage Fritz, ob er mir vielleicht eine Suppe machen könne. Er nickt stumm, dreht um und verschwindet in der Küche. «Fritz kann alles», sagen die beiden anderen.
In dem Moment kommt eine ältere Frau in die warme Stube. Sie grüsst freundlich, ruft Fritz ein Hallo in die Küche. Er hört es nicht. Sie setzt sich an den Stammtisch. Vermutlich sitzt sie immer genau dort. Als Fritz sie entdeckt sagt er: «Hoi Vreni, willst einen Tee?». Sie will. Vermutlich auch wie immer. Wir kommen schnell ins Gespräch. Woher ich komme, möchte sie wissen.
Ich: «Aus dem Zürcher Oberland.»
Sie: «Oha, ich has dänkt.»
Ich: «Gut oder schlecht?»
Sie: «Ich bi einisch in Züri gsi. Dört woti nid wohne. Isch nüt Schöns.»
Ich lache.
Sie lacht.
Die beiden Herren lachen.
Fritz bringt die Suppe. Fidelisuppe. Mit Zopf. Selbstgemacht. Herrlich.
Was sie denn damals dieses eine Mal in Zürich machte? «Ich ging da mal Kegeln.» Genauer darauf eingehen, was denn nicht gefällt an der Limmatstadt wird sie nicht. Wie sich kurz darauf herausstellt, dürfte Vreni eine grosse Keglerin sein. Denn plötzlich dringen Salsarhythmen aus ihrer Handtasche. Das Handy klingelt. Ich hätte ja viele Klingeltöne erwartet. Aber ganz sicher nicht diesen. Wie auch immer. Margrit ist dran. Vreni muss irgendwas absagen, weil sie habe dann Kegelmeisterschaften.
Mittlerweile trifft die Jassgruppe ein. Auch sie sind längst pensioniert. Alle kennen sich mit Vornamen. Fritz, Vreni, die Jasser. Alle Neuankömmlinge schreiten gemächlich an meinem Tisch vorbei und wünschen «ä Guetä». Fritz sagt, er habe dann auch noch mehr Suppe. Niemand ist hungrig. «Dann musst du sie selber essen», frotzelt Vreni. «Ich hab schon gegessen», entgegnet Fritz.
Die Pilzsammler machen sich auf den Heimweg und ich frage Vreni, ob sie mir was Spannendes über Eriz erzählen könne. «Ich wohnte nur acht Jahre hier. Jetzt bin ich unten im Tal.» Hier sei sie, weil sie ihre Coiffeuse besucht. «Man muss die lokalen Geschäfte unterstützen.» Ich nicke. Und die Coiffeuse betritt das Restaurant. Nein, nein, sie wisse auch nichts zu erzählen. «Ah, aber Elsbeth ist am jassen? Ich muss ihr noch was geben.» Wie gesagt: man kennt sich. Später finde ich im Internet heraus, was es in Eriz Spannendes gibt:
– Am 1. August schreiben sie hier Eriz mit riesigen Fackelbuchstaben ins Gelände.
– Das Skigebiet sei eines der günstigsten Familienskigebiete der Schweiz. Sagt die Tourismusseite.
– In der Silvesternacht machen die ledigen Männer einen Treichelumzug.
Ich werde das leider alles verpassen. Und bestelle die Rechnung. Fritz steht an meinem Tisch, blickt lange schweigend auf meinen leeren Teller und die Tasse Tee. Ich weiss nicht recht, ob er gerade rechnet oder sich einen Preis überlegt. Irgendwie erinnert mich das an Situationen in Afrika, wo das Personal teilweise beim Wort «Rechnung» zurück an die Theke geht, irgendetwas diskutiert und dann mit einem (scheinbaren) Fantasiepreis zurückkommt, der meist eine gerade Zahl ist. «10 Franken», sagt Fritz. Genau das meinte ich.
Meine Füsse sind mittlerweile wieder spürbar. Die Sonne lacht, der Hohgant zeigt sich herrlich am Ende des Tals. Eriz – nie im Leben wäre ich hierhin in den «hintersten Chrachen» gekommen, hätte ich die «Tour dur d'Schwiiz» nicht gemacht. Ich hätte so viel verpasst. Das war vermutlich gerade meine coolste Mittagspause seit vier Monaten.