Wer frisch in die Schweiz zieht, der staunt. Da stehen Einkaufscenter mit einem grossen «M» darauf und führen Produkte, die es sonst auf der Welt nirgends zu kaufen gibt. Eigenprodukte, von der Glace bis hin zur Nachtcreme. Dahinter steckt eine Firma, die Migros, die eigentlich eine Genossenschaft ist und den Mitgliedern, den 2.16 Millionen Genossenschaftern, gehört.
Klingt schon fast nach Brachialkommunismus. Ausgerechnet in der sonst so bürgerlich-kapitalistischen Schweiz. Und was noch erstaunlicher ist: Dahinter verbirgt sich ein 27-Milliarden-Unternehmen mit 97'000 Mitarbeitern. Es ist sogar der grösste industrielle Arbeitgeber der Schweiz. Über ein Drittel der landwirtschaftlichen Produktion der Schweiz geht an die Migros-Betriebe. Rasch wird dem staunenden Zuzüger klar: Das ist ein Machtfaktor, neben dem ewigen Konkurrenten Coop der grösste Werbekunde in der Schweiz, und mit seinen eigenen Zeitungen eines der ganz grossen Verlagshäuser.
Von aussen her scheint das alles unübersichtlich. Auch viele Schweizer, die mit der ungewöhnlichen Lebensgeschichte des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler vertraut sind, verlieren hier den Durchblick. Gerade ist die Internet-Abteilung daran, Hunderte von Migros-Angeboten im Internet zu durchforsten. Jede Marke, jeder Unternehmensteil hat einen eigenen Auftritt, viele sind offenbar seit Jahren nicht mehr gewartet worden.
Keine Frage: Das nahezu ungestüme Wachstum der letzten Jahre, das ausser Coop keinen daneben gross werden liess, hat die Schweizer Wirtschaftswelt geprägt. Die Migros-Gruppe, es ist ja nicht im rechtlichen Sinn ein Konzern, ist mit seinen 10 regionalen Genossenschaften, denen wiederum der Migros-Bund (MGB) in Zürich gehört, in den letzten Jahren nicht nur organisch gewachsen. Sondern auch durch Zukäufe. Zur Migros-Familie gehören neben den 580 Supermärkten Baumärkte, Sporthändler, Restaurants, Freizeitanlagen, Fitnesscenter und Golfclubs.
Ja, auch eine Bank sowie ein Reiseveranstalter sind mit dabei. Die bekanntesten Firmen, die dem MGB gehören, sind neben Denner, Globus, Exlibris oder Migrol auch LeShop.ch oder ein Teil des Onlinehändlers Digitec. Jeder Schweizer Konsument bekommt es statistisch gesehen mindestens einmal in der Woche mit einem Migros-Unternehmen zu tun. Das Wachstum konnten nicht einmal die deutschen Hard-Discounter Aldi und Lidl bremsen.
Und doch scheint heute angesichts der Frankenstärke und des daraus folgenden massiven Einkaufstourismus im Ausland ein Punkt erreicht, an dem sich die Gruppe unter Migros-Chef Herbert Bolliger grundlegende strategische Fragen stellt: Wo wollen wir weiter wachsen? Wo macht ein Engagement in der Schweiz Sinn, wo im Ausland?
Erst kürzlich wurde bekannt, dass Deutschlands grösster Lebensmittelhändler Edeka bei seinen Plänen zur Übernahme des Konkurrenten Kaiser’s Tengelmann auf heftigen Widerstand stösst. Sowohl das deutsche Bundeskartellamt als auch die Monopolkommission sagten Nein. Nun könnte die Migros zum Zug kommen. Ihre Zürcher Genossenschaft hatte im Juli ein Interesse angemeldet. Mit der Übernahme von 130 Tengelmann-Supermärkten möchte sie im Süden Deutschlands wachsen. Dieser Schritt würde auf die Übernahme der deutschen Lebensmittelkette Tegut im Herbst 2012 folgen. Entschieden ist hier noch nichts.
Auch die Migros-Industrie – besonders vom starken Franken geplagt – hegt Auslandspläne. Sie produziert bereits Schoggi in den USA, Schönheitsprodukte in England und hat Einkaufsbüros in Asien. Diese Woche wurde bekannt, dass die Migros-Kosmetiktochter einen Ableger in Indien gründet.
Die grosse Frage, die sich aus Sicht der Migros stellt: Wie kann man sicherstellen, dass die Migros in der Schweiz von diesen Plänen profitiert? Hier sind sich die verschiedenen Migros-Verantwortlichen nicht immer einig. Andrea Broggini, der Präsident der Verwaltung des MGB, also mit einem Verwaltungsrats-Präsidenten in einem Konzern vergleichbar, sucht nach gezieltem Wachstum im Ausland mit der Absicht, die bestehenden Geschäftsfelder und die Gruppe als Ganzes zu stärken. Explizit gehört wohl hier dazu, dass die Migros-Industrie im Ausland Tochterfirmen aufbaut, die für die Schweiz, aber nicht nur, produzieren.
Wer in der Migros eine Stelle antritt, der wird von der Personalabteilung und von den Vorgesetzten nicht nur in fachlicher Hinsicht geprüft, sondern es geht meistens auch darum, ob die Personen jene Werte, die einst der Migros-Gründer geprägt hat, mittragen. Dazu gehört auch ein Stück weit eine Bescheidenheit – Migros-Banker werden kaum so grosszügig entlöhnt wie ihre Kollegen von Grossbanken. Was dieses Erbe in der digitalen Konsumwelt noch gilt, das wird die grosse Frage sein. Ob dies der Nachfolger Bolligers, der bald einmal bestimmt wird, beantworten kann, wird sich zeigen.
Stattdessen gibt's Aktionitis, sündhaft teures Marketing und versteckte Preiserhöhungen. Genossenschaftlich ist bei der Migros nur noch die Rechtsform.