Der Zeitpunkt war brisant. Wenige Wochen bevor die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ihr 100-Jahr-Bestehen feierte, setzte sie Mitte Mai 2019 die Schweiz auf eine schwarze Liste. Darauf figurierten vierzig Länder mit den bedenklichsten Fällen von Verletzungen des Arbeitsrechts. Die Schweiz befand sich dabei in unrühmlicher Gesellschaft: Abgesehen von Griechenland und Weissrussland war sie der einzige europäische Staat auf der Liste.
Die UNO-Organisation sah es als erwiesen an, dass die Schweiz gewerkschaftlich aktive Arbeitnehmende nicht genügend vor einer missbräuchlichen Kündigung schützt. Wer sich hierzulande in seinem Betrieb für bessere Arbeitsbedingungen einsetzt und allenfalls streikt, laufe Gefahr, dass ihm gekündigt wird. Unliebsame Angestellte könnten so mundtot gemacht werden.
Bemüht um ihren guten Ruf, reagierte die Schweiz. Am Tag nach der Eröffnung der Jubiläumsfeierlichkeiten strich die ILO die Schweiz wieder von der schwarzen Liste fehlbarer Länder. Wirtschaftsminister Guy Parmelin hatte zugesichert, den Kündigungsschutz zu verbessern. Er startete eine Mediation mit den Sozialpartnern.
Das war auch ein strategischer Zug. Die Kritik der ILO war dem Bundesrat wohlbekannt. Sie rüffelte die Schweiz in den Jahren davor mehrmals dafür, dass sie das entsprechende internationale Übereinkommen nie umgesetzt habe. Der Bundesrat verteidigte stets das liberale Arbeitsgesetz der Schweiz. Das geltende Recht biete ausreichenden Schutz in Fällen missbräuchlicher Kündigung.
Doch die Aufnahme auf der schwarzen Liste kam nun ungelegen. Dass die älteste UNO-Organisation 2019 ihren 100-Jahr-Geburtstag feierte, hatte für die Schweiz grosse Bedeutung. Die ILO hat ihren Sitz in Genf und ist dort auch die grösste UNO-Arbeitgeberin der Stadt. In diesem prestigeträchtigen Jahr bewarb sich die Schweiz zusätzlich um das Präsidium der Organisation.
Die Schweizer Post gab sogar eine eigene Briefmarke heraus. Symbolisch war darauf der Tripartismus dargestellt; also die konsensorientierte Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Arbeitgebern und des Bundes, wenn es um die Gestaltung der Arbeitswelt geht. Doch gerade die Errungenschaft, auf welche die Schweiz so grosse Stücke hält, scheint beim Thema der missbräuchlichen Kündigung abhanden gekommen zu sein.
Auch zwanzig Jahre nachdem der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) wegen der Untätigkeit des Bundes eine Beschwerde bei der ILO eingereicht hat, besteht das Problem weiterhin. Laut Zahlen des SGB wurden im letzten Jahr 21 Personen missbräuchlich entlassen, weil sie gewerkschaftlich aktiv waren und sich für kollektive Rechte, wie sie in Gesamtarbeitsverträgen (GAV) festgelegt sind, eingesetzt haben.
Da geht es etwa um einen Teamleiter, der seine Firma wiederholt auf gravierende Sicherheitsmängel hingewiesen hat. Als er schliesslich die Arbeit wegen eines ungesicherten Gerüsts einstellen muss, wird er am Tag darauf entlassen. Oder um eine Frau, die in der Nachtschicht im Reinraum einer Medizinaltechnikfirma arbeitete. Im Schutzanzug verpackt sie unter sterilen Bedingungen Produkte. Trotzdem kriegt sie gesundheitliche Probleme. Als sie mit anderen Angestellten eine Zulage für die Arbeit fordert, wird sie von ihren Vorgesetzten gemobbt und anschliessend entlassen.
Zwar ist nach geltendem Recht eine Kündigung missbräuchlich, wenn sie wegen einer rechtmässigen gewerkschaftlichen Tätigkeit erfolgt. Die maximale Entschädigung liegt aber lediglich bei sechs Monatslöhnen. In vielen Fällen würden Arbeitgeber von Gerichten nur zu einer Zahlung von zwei bis drei Monatslöhnen verurteilt, kritisieren die Gewerkschaften.
Für die ILO wirkt das nicht genügend abschreckend für die Arbeitgeber. Auch eine Studie der Universität Neuenburg im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) kommt zum Schluss, dass Arbeitnehmervertretern im Schweizer Recht «nur ein minimaler Schutz vor der missbräuchlichen Kündigung gewährt» werde. Beim Schutz von Gewerkschaftsdelegierten komme die Schweiz deshalb ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht nach.
Die Rechtsprofessoren empfahlen deshalb, den Kündigungsschutz von sechs auf zwölf Monate auszubauen. Genau das hatte der Bundesrat schon 2010 bei der Änderung des Obligationenrechts vorgeschlagen. Doch in der Vernehmlassung lief er mit seinen Plänen auf. Während die Arbeitgeber das geltende Recht als ausreichend erachten, gingen den Gewerkschaften die Vorschläge zu wenig weit. Sie forderten, dass Opfer missbräuchlicher Kündigungen zwingend wieder eingestellt werden sollten.
An diesen verhärteten Fronten hat auch die Mediation nichts geändert, die 2019 begann und Ende 2023 sistiert wurde. Letzten Oktober rauften sich die Beteiligten nochmals zusammen. Wirtschaftsminister Guy Parmelin erklärte, die Chancen für eine Einigung stünden gut. Ein gutes Omen ist der Mediator. Wer, wenn nicht Polit-Urgestein Franz Steinegger, der als Katastrophen-Franz nationale Bekanntheit erlangte, könnte es richten. (aargauerzeitung.ch)