Die Pandemie hat den SBB arg zugesetzt. So arg, dass sie sich noch immer nicht von den Auswirkungen erholt haben. Zuerst warnte der Bund mit seiner Losung «Bleiben sie zu Hause» während Monaten davor, in die Züge zu steigen. Und als die akute Phase der Viruskrise überstanden war, kehrten viele Pendlerinnen und Pendler nicht wieder zurück. Sie hatten die Möglichkeit des Homeoffice schätzen gelernt und erneuerten beispielsweise ihr Generalabonnement (GA) nicht mehr.
Dieses veränderte Mobilitätsverhalten brachte die SBB in zusätzliche Finanznöte. Im Jahr 2021 mussten sie einen Verlust von 325 Millionen Franken verbuchen. Die Konzernleitung sah sich gezwungen, ein Sparpaket über 6 Milliarden Franken bis 2030 zu schnüren.
Auch im ersten Halbjahr 2022 besserte sich die Situation nicht grundlegend: Der Verlust fiel zwar mit 142 Millionen Franken weniger hoch aus. Dennoch zählten die SBB im ersten Halbjahr im Regional- und Fernverkehr pro Tag immer noch 15,1 Prozent weniger Passagiere als vor Corona.
Angesichts der angespannten Lage fragt sich die Branche derzeit, wie sie Kundinnen und Kunden wieder für den öffentlichen Verkehr gewinnen kann. Die Branchenorganisation Alliance Swiss Pass tüftelt bereits seit einem Jahr an neuen, flexiblen Abo-Modellen. Diese sollen vor allem Gelegenheitsreisende, Teilzeitpendler und Freizeitreisende abholen.
Eines dieser neuen Abos befindet sich auf der Zielgeraden, wie Alliance Swiss Pass auf Anfrage bestätigt. «Im Sortiment des öffentlichen Verkehrs klafft zurzeit eine Lücke zwischen dem Halbtaxabo und dem GA», hält der Verband fest.
Das neue, flexibel nutzbare Abo richtet sich primär «an Halbtax-Vielnutzer mit Potenzial für zusätzliche Freizeitreisen» und soll voraussichtlich zum Fahrplanwechsel Ende 2023 verfügbar sein. Die Zielgruppe sind Nutzerinnen und Nutzer, die das Halbtax stark beanspruchen, für die sich ein GA für 3860 Franken (2. Klasse) jedoch noch nicht rechnet.
Wie das neue «ÖV-Guthaben»-Abo konkret ausgestaltet sein wird, darüber schweigt Alliance Swiss Pass noch. Klar ist: Die ÖV-Branche möchte es definitiv einführen. Das hat der Strategierat von Alliance Swiss Pass entschieden. Der abschliessende Entscheid der Mitglieder folgt Ende Oktober.
Im Markttest, der noch bis Ende Februar 2023 andauert, funktionierte das Modell «ÖV-Guthaben» so: Ein Kunde kann sich zusätzlich zu seinem bestehenden Halbtax-Abo ein bestimmtes Guthaben zu einem Sparpreis kaufen, beispielsweise 3000 Franken ÖV-Guthaben zum Preis von 2000 Franken oder 1000 Franken zum Preis von 800 Franken.
Dieses Guthaben kann während eines Jahres für den Kauf von Billetten und Tageskarten genutzt werden – hinterlegt bleibt dabei zusätzlich der Halbtax-Rabatt. Mittels der «Easy-Ride»-Funktion der SBB wird der Preis für die Fahrt direkt in der App ermittelt und vom Guthaben abgezogen.
Wird der Einstiegspreis – zum Beispiel 2000 Franken – nicht ausgeschöpft, erhalten die Kundinnen und Kunden die Differenz zurück. Entsprechendes Guthaben über dem Einstiegspreis verfällt nach Ablauf der Abofrist.
Dieser Mechanismus soll die Kundschaft zu möglichst vielen zusätzlichen Fahrten animieren. Denn wer bereits 2000 Franken ausgeschöpft hat, hat einen Anreiz, die zusätzlichen 1000 Franken des Guthabens nicht verfallen zu lassen. Dass dies funktioniert, zeigt die Marktforschung von Alliance Swiss Pass. Demnach hat das ÖV-Guthaben-Modell «punkto Mehrkonsum» am besten abgeschnitten, erklärte der Verband vor Beginn des Markttests letztes Jahr.
Doch führt das neue, preislich attraktive Abo nicht dazu, dass sich noch mehr Kundinnen und Kunden vom klassischen Generalabo abwenden? Die Frage stellt sich umso mehr, als das GA-Geschäft während der Pandemie massiv gelitten hat. Zwischen 2019 und 2021 sankt die Zahl der Generalabonnements von 499'530 auf 406’371. In diesem Jahr hat sich die Situation etwas stabilisiert. Diesen Herbst besassen 430’551 Personen ein solches Abo.
Tatsächlich dürfte mit der Flexibilisierung der Abo-Landschaft die Dominanz des klassischen Generalabos gebrochen werden. Die Zahl der GA-Verkäufe wird so schnell keine Rekordmarken mehr knacken. Denn eine gewisse Umlagerung von GA zu den geplanten Guthaben-Abos ist unumgänglich und sogar gewünscht. Die Hoffnung: Statt bestehende GA-Kundinnen und GA-Kunden ganz zu verlieren, kann das Guthaben-Abo diese wieder an den öffentlichen Verkehr binden oder gar verlorene Kundschaft zurückholen.
«Wir haben gesehen, dass während und nach der Pandemie viele Kundinnen und Kunden ihr GA nicht erneuert haben. Ihnen wollen wir künftig ein Abo anbieten, das ihren veränderten Mobilitätsbedürfnissen Rechnung trägt», sagt Reto Hügli, Sprecher von Alliance Swiss Pass.
Die Branche testet neben dem neuen Guthaben-Abo weitere Modelle. Darunter ein Wahltage-Abo für Homeoffice-Kunden, bei dem diese die Gültigkeit des Abos auf drei Wochentage verteilen können, ein Mobility-Pricing-Konzept, das zu Reisen zu Randzeiten animieren soll, und Sparbillette in lokalen Tarifverbünden. Welche dieser Abos ebenfalls definitiv eingeführt werden, darüber wird die Branche voraussichtlich bis Ende Jahr befinden.