Die SVP und die Wirtschaftsverbände steigen vor der Bundesratssitzung vom kommenden Mittwoch erneut ins Öffnungs-Powerplay: Gewerbeverband-Chef Hans-Ulrich Bigler fordert «die sofortige Beendigung des Lockdowns». Auch die SVP will unverzügliche Öffnungen ab dem 19. April für Restaurants und Betriebe in den Bereichen Kultur, Sport und Freizeit.
Mahnende Stimmen kommen längst nicht nur von Epidemiologinnen. Ob Bar-Betreiber Dirk Hany oder Taskforce-Ökonom Marius Brülhart: Sie sagen im Gespräch mit watson, warum rasche Öffnungen für die Wirtschaft ein Eigentor sein können.
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Mitte März las der Zürcher Barchef Dirk Hany Öffnungsturbos in der SRF-Arena die Leviten und sprach sich klar gegen Lockerungen aus. Man müsse noch vier Wochen «durchbeissen», sagte der Barkeeper des Jahres 2020 damals. Nun befürwortet auch er die Öffnung der Aussenterrassen, da die Leute wegen des Frühlings ohnehin nach draussen strömten. Die Sache hat aber einen Haken.
Seine «Bar am Wasser» am Stadthausquai mache er erst auf, wenn man auch in den Innenräumen Drinks schlürfen dürfe. Er habe eine Teil-Öffnung mehrmals durchgerechnet: «Es rentiert für uns einfach nicht, nur die Terrasse aufzumachen», sagt Hany zu watson. Einerseits müsste er viele Mitarbeitende aus der Kurzarbeit holen und dem Vermieter wieder die volle Miete zahlen. «Und was passiert, wenn es im Mai oft regnet? Das Risiko ist zu gross. Denn in Zürich herrscht normalerweise kein Klima wie in Ibiza oder Mykonos.»
Zahlreiche Wirtinnen und Wirte fühlten sich trotz der finanziellen Risiken verpflichtet, bei Lockerungen die Terrassen zu öffnen. Insbesondere, da die Angestellten und Kundinnen verständlicherweise Druck ausübten. «Viele Gastronomen haben Angst, dass sie aufgrund der Teilöffnungen erst recht in eine Krise geraten», so Hany. Seit seinem Auftritt in der «Arena» habe er mit unzähligen Branchenkolleginnen gesprochen, die sich oft in einer ähnlichen Situation befänden.
Für eine komplette Öffnung der Gastronomie sei es aber wegen der heiklen Corona-Lage zu früh. «Das Schlimmste für die Gastro-Branche wäre, wenn wir aufmachen und dann wieder schliessen müssten.»
Bis er wieder Drinks in seinem Lokal servieren darf, versucht der Barkeeper des Jahres, sich und sein Team bei Laune zu halten. Sei es mit einer gemeinsamen Wanderung oder indem sie für die nächsten Cocktail-Wettbewerbe übten. So mixte er und seine Crew am letzten Wochenende 3000 Drinks am Zürcher «Take-Away-Cocktail-Festival», dessen Erlös an ein Kinderhilfswerk ging.
Warnende Töne kommen auch von ökonomischer Seite. Marius Brülhart, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Lausanne und Mitglied der Expertengruppe Economics der wissenschaftlichen Corona-Taskforce des Bundes sagt: «Wir sind in der Endphase und dürfen jetzt die Kraft nicht verlieren. Sonst setzen wir viel aufs Spiel.»
Vor ein paar Monaten habe er nachvollziehen können, dass es von verschiedenen Branchenvertretern laute Kritik gab. Viele Firmen hätten massive Umsatzeinbussen in Kauf nehmen müssen, aber nicht gewusst, ob und wie sie dafür entschädigt würden. Inzwischen sei aber ein breites Sicherheitsnetz gespannt worden. Über Kurzarbeit, Erwerbsausfallentschädigungen und nun auch Härtefallgelder werde diesen Firmen unter die Arme gegriffen, so Brülhart. Er ist sich sicher: «Diese Kompensationen können bei Bedarf noch ein paar Monate weiterfliessen, dafür ist die Schweiz finanziell gut aufgestellt.»
Brülhart findet es durchaus sinnvoll, mit dem Andauern der Impfkampagne die Massnahmen stetig anzupassen. «Es darf kein Denkverbot geben, aber wir sollten vorsichtig sein.» Rein wirtschaftlich scheine es auf den ersten Blick vielleicht sinnvoll, in gewissen Bereichen stärker zu lockern. Doch man müsse auch das gesundheitliche Risiko mit einkalkulieren. Und verschlechtere sich die epidemiologische Lage wieder, könne auch die wirtschaftliche Bilanz am Schluss schlechter ausfallen, sagt Brülhart. «Eine erfolgreiche Eindämmung reduziert auch wirtschaftliche Risiken.»
Wenn sich die epidemiologische Situation in der Schweiz deutlich verschlechtere und dadurch starke zusätzliche Eindämmungsmassnahmen eingeführt werden müssen, dann könne das zu einer deutlichen Reduktion des Bruttoinlandprodukts führen. Ein von der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich analysiertes Szenario zum Beispiel schätzte den möglichen Wertschöpfungsverlust in einem solchen Fall auf über 2 Milliarden Franken.
Was der Wirtschaft tatsächlich am meisten bringe, seien Impfungen, so Brülhart. Mit jedem Tag, mit dem die Schweizer Wirtschaft durch Impfungen die Normalisierung rascher erreiche, gewinne man 50 Millionen Franken. «Gerade darum müssen wir jetzt jeden Tag so viele Leute impfen wie möglich. Wenn irgendwie möglich auch an den Wochenenden.»
Hohe Ansteckungszahlen bergen hohe Risiken: «Studien zufolge erkranken 10 bis 30 Prozent der Menschen an Long Covid und leiden über mehrere Wochen oder sogar Monate an körperlichen und psychischen Folgeerscheinungen», sagt Didier Trono. Er ist Leiter der Expertengruppe Diagnostik und Tests der nationalen Corona-Taskforce.
Viele der Long-Covid-Erkrankten seien jung und könnten längerfristig arbeitsunfähig werden, was sich auf die Wirtschaft auswirken werde, sagte er. «Dieses Risiko können wir nicht eingehen. Wir müssen auch jüngere Personen schützen.»
Trono rät daher von einer übereilten Entspannung ab. «Pandemiebekämpfung ist ein Marathon. Aber wir befinden uns in Sichtweite der Ziellinie. Wenn wir uns bei der Impfung richtig ins Zeug legen, brauchen wir nur noch etwa zwei bis zweieinhalb Monate Geduld, bis genügend Menschen geimpft sind.»
Wenig Verständnis für die Forderungen der Wirtschaftsverbände hat auch Epidemiologin Isabella Eckerle. Auf Twitter schreibt sie: «In Gegenwart wirksamer Impfungen auf Durchseuchung zu plädieren beziehungsweise Öffnungen bei Impfung einer kleinen Bevölkerungsgruppe, ist so, wie zum Löschtrupp der Feuerwehr noch einen zweiten zu schicken, der statt Wasser Kerosin sprüht». Der Basler Infektiologe Manuel Battegay sprach von einem «unsolidarischen» und «unethischen» Vorschlag, der ein «hohes Risiko» mit sich bringt.
Ich habe Vertrauen in den Bundesrat, dass er das ausblenden kann.
Terrassenöffnungen könnte man zwar vertreten, denn neuste Studien zeigen, dass das Ansteckungsrisiko draussen tiefer ist als vermutet. Aber es rechnet sich für viele Gastronomen finanziell nicht.
Eventuell könnte man als Kompromiss die Terrassen öffnen und den Gastronomen weiter etwas unter die Armen greifen?