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Nein, die Menschen in der Schweiz arbeiten nicht immer weniger

Nein, die Menschen in der Schweiz arbeiten nicht immer weniger

In der Schweiz ist eine hitzige Diskussion über Teilzeitpensen entbrannt. Was oft übersehen wird: Die Arbeitszeit der erwerbsfähigen Bevölkerung hat pro Kopf zugenommen. Drei Behauptungen im Faktencheck.
24.03.2023, 06:1524.03.2023, 11:24
Mark Walther / ch media
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«Schweizer arbeiten nur noch 31 Stunden pro Woche», steht über einem viel beachteten Artikel der «Sonntagszeitung». Ökonom Christoph Schaltegger sieht das Arbeitsethos in der «NZZ» «erodieren». In derselben Zeitung fragt eine Kommentatorin: «Selbstverwirklichung vor Leistung: Wie lange geht das gut?»

Wirtschaftsvertreter werfen Jungen und Studierten fehlenden Leistungswillen vor – zu Unrecht, wie Arbeitsmarktdaten zeigen.
Wirtschaftsvertreter werfen Jungen und Studierten fehlenden Leistungswillen vor – zu Unrecht, wie Arbeitsmarktdaten zeigen.Bild: Gaetan Bally / Keystone

Wirtschaftsforscher und Arbeitgeberinnen malen ein düsteres Bild der Entwicklungen am Arbeitsmarkt. Allein: Vieles davon trifft nicht zu. Daten des Bundesamts für Statistik (BFS) offenbaren ein anderes Bild.

Behauptung 1: Die Menschen in der Schweiz arbeiten immer weniger

Das ist falsch.

Die jährliche Arbeitszeit pro Person im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre) stieg von 1275 Stunden im Jahr 2010 auf 1287 Stunden im Jahr 2019. Das ist ein Plus von 12 Stunden oder rund 1.5 Arbeitstagen. Und das trotz mehr Ferientagen und weniger Überstunden.

Die Pandemie sorgte für einen Einbruch: Die Kurzarbeit trieb die Absenzen in die Höhe und drückte die Jahresarbeitszeit leicht unter den Wert von 2010. Zahlen für 2022 liegen noch nicht vor.

Unterschiede gibt es zwischen den Geschlechtern: Bei den Männern nahm die Arbeitszeit bis 2019 um drei Prozent ab. Die Frauen machten das mit einem Plus von 7 Prozent mehr als wett.

Diese Zahlen hat das BFS auf Anfrage von CH Media pro Person im erwerbsfähigen Alter berechnet. Das Bundesamt weist die Arbeitszeit gewöhnlich pro erwerbstätige Person aus. Das ist ein entscheidender Unterschied: Pro erwerbstätige Person nahm die Jahresarbeitszeit zwischen 2010 und 2019 nicht um 1.5 Tage zu, sondern um 7.4 Arbeitstage ab. Im Coronajahr 2020 arbeitete eine Arbeitskraft tatsächlich nur rund 31 Stunden pro Woche – statt deren 42 wie im Jahr 1990.

Bloss: Diesem Vergleich haftet ein Makel an. Er berücksichtigt die Hausfrauen nicht. Wer null Stunden erwerbstätig ist, erscheint nicht in der Statistik. Heute sind viel mehr Frauen erwerbstätig als vor dreissig Jahren – und das vorwiegend in Teilzeitpensen. Gleichzeitig arbeiten mehr Männer Teilzeit. Das führt zu folgendem Resultat: Die durchschnittliche Arbeitszeit all jener, die arbeiten, sinkt – obwohl dank der Frauen insgesamt mehr gearbeitet wird.

Das Problem an einem konkreten Beispiel erklärt
Die Schweiz besteht in diesem Beispiel der Einfachheit halber aus zwei Personen – dem Ehepaar Herr und Frau Müller:

Im Jahr 1990 arbeiten Herr und Frau Müller zusammen 42 Stunden pro Woche. Herr Müller absolviert diese 42 Stunden in einem 100-Prozent-Pensum. Frau Müller kümmert sich um Haus und Kinder, geht aber keiner bezahlten Arbeit nach – sie ist nicht erwerbstätig. Durchschnittlich arbeitet die erwerbstätige Bevölkerung (die nur aus Herrn Müller besteht) 42 Stunden.

Im Jahr 2023 arbeiten Herr und Frau Müller zusammen 51 Stunden pro Woche, also neun mehr als 1990. Herr Müller schuftet 34 Stunden in einem 80-Prozent-Pensum, Frau Müller 17 Stunden in einer 40-Prozent-Anstellung. Beide gehören nun zur erwerbstätigen Bevölkerung. Der Durchschnitt von 17 und 34 Stunden liegt bei 25,5 Stunden. Obwohl die Schweiz (bestehend aus Herr und Frau Müller) mehr arbeitet, sinkt der Durchschnitt.

Ein zweiter BFS-Indikator zeigt ebenfalls, dass mehr Arbeit verrichtet wird: Das durchschnittliche Pensum der 15- bis 64-Jährigen stieg seit 1996 um fast zwei Prozentpunkte auf 71,8 Prozent.

Daniel Kopp von der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich bestätigt: «Trotz Teilzeittrend beobachte ich nicht, dass insgesamt weniger gearbeitet wird.» Der Broterwerb verteile sich heute anders zwischen den Geschlechtern als früher: Die Frauen arbeiten mehr, die Männer weniger. Bei der unbezahlten Arbeit ist es laut dem Forscher umgekehrt - wenngleich die Unterschiede zwischen den Geschlechtern weiterhin gross seien.

Das zeigt sich auch in der Teilzeitquote: Von den erwerbstätigen Frauen arbeiten 58 Prozent Teilzeit, bei den Männern sind es 19 Prozent.

Behauptung 2: Die Jungen geniessen lieber ihre Freizeit, als zu arbeiten

Der Teilzeittrend ist eine Tatsache – nicht nur bei den Jugendlichen. Das hat aber weniger mit Faulheit als mit einem anderen Grund zu tun.

Die Männer der Millennials (Jahrgänge 1981-1996) und der Generation Z (1997-2012) sind häufiger in Teilzeit engagiert als die Generation X (1965-1980) vor ihnen. Bei den Frauen sind die Unterschiede gering – ab dem 27. Altersjahr. Frauen der zwei jüngeren Generationen arbeiten im Alter von 20 bis 27 Jahren bedeutend häufiger Teilzeit als ihre Vorgängerinnen – die Quote beträgt fast 40 Prozent.

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grafik: ch media

Daraus zu schliessen, die Jungen seien vollzeitmüde, ist laut Arbeitsmarktforscher Kopp eine Fehlinterpretation. Vielmehr hänge die hohe Teilzeitquote in diesem Alter damit zusammen, dass heute mehr und länger studiert werde. Die längere Studiendauer und die häufig parallel zum Studium ausgeübten Erwerbstätigkeiten hätten zu einem deutlichen Anstieg der Teilzeitbeschäftigung geführt, schreibt das BFS in einem Bericht.

Unbestritten ist, dass es Arbeitskräfte gibt, die aus purer Lust nicht Vollzeit arbeiten. Gemäss der Arbeitskräfteerhebung des BFS haben über alle Altersgruppen hinweg 16 Prozent kein Interesse an einem Vollzeiterwerb. Dieser Wert hat sich in 20 Jahren kaum verändert: 2001 gaben 18 Prozent der Frauen und 14 Prozent der Männer diesen Grund für ihren Teilzeitjob an.

Behauptung 3: Studierte arbeiten vermehrt Teilzeit

Das stimmt erst einmal. Die Teilzeitquote der Männer mit Tertiärabschluss (Universität, Fachhochschule, höhere Berufsbildung) ist zwischen 2011 und 2021 von 15 auf 18,2 Prozent gestiegen; das ist ein Plus von 3,2 Prozentpunkten. Bei den Frauen fiel die Steigerung mit 1,4 Prozentpunkten – von 53.2 auf 54,6 Prozent – geringer aus. Das zeigt eine BFS-Spezialauswertung für das Onlineportal «Hauptstadt».

Teilzeit ist indes nicht nur bei Studierten im Trend. Bei Männern ohne Studium stieg die Teilzeitquote sogar stärker: Bei Sek-II-Absolventen (Berufs- und Mittelschulen) ging sie um 5 Prozentpunkte auf 17,8 Prozent hoch, bei Absolventen der obligatorischen Schulzeit (Sek I) um 4,2 Prozentpunkte auf 18,9 Prozent.

Während sich die Quoten bei den Männern angleichen, sind die Unterschiede bei den Frauen grösser: Studienabgängerinnen arbeiten seltener Teilzeit (54,6 Prozent) als Frauen mit tieferen Abschlüssen, wo die Werte über 60 Prozent liegen.

Dass die AHV unter der Teilzeitarbeit der Gutverdienenden leide, hält Kopp für eine unbegründete Sorge. Insgesamt werde ja nicht weniger gearbeitet. Anders könnte es bei den Steuern aussehen, weil hohe Einkommen überproportional stark besteuert werden. Diese Ausfälle seien jedoch schwierig zu beziffern.

Bonus: Aber früher wurde doch viel mehr gearbeitet

Ja, und zwar deutlich. Das zeigt alleine schon die Entwicklung der Standardarbeitswoche. Die Schweiz reduzierte die übliche Wochenarbeitszeit zwischen 1950 und 1990 nach und nach von fast 50 auf knapp unter 42 Stunden. Seither verharrt sie auf diesem Niveau. (aargauerzeitung.ch)

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185 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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dominativ
24.03.2023 06:48registriert September 2022
Seit es die 42 Stunden Woche gibt (irgendwann in den 70ern oder 80ern) ist die Produktivität immens gestiegen, nicht zuletzt wegen der Digitalisierung. Dieser Trend wird in den nächsten Jahren nochmals deutlich zunehmen.

Dass wir immer noch keine 4-Tage-Woche haben ist eigentlich ein Skandal. Dann hätte man auch weniger Probleme mit Burnouts etc und ich behaupte einfach mal, dem Fachkräftemangel würde es auch entgegenwirken (weil zb weniger Pflegefachkräfte den Beruf wegen den schlechten Arbeitsbedingungen verlassen).

Mehr Arbeiten ≠ produktiver, immerhin habens die Isländer verstanden.
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Fastadi
24.03.2023 06:31registriert September 2015
Das Argument mit der Teilzeit und den Steuern lasse ich nicht gelten. Zuerst muss die Pauschalbesteuerung von Superreichen abgeschafft sowie Vermögen vernünftig besteuert werden, bevor FDP/SVP mit solchen Argumenten kommen. Damit liessen sich die Steuereinnahmen deutlicher steigern.
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Mira Bond
24.03.2023 06:57registriert Oktober 2016
Wir dürfen einfach nicht vergessen, dass wir in der CH eine höhere Arbeitszeit haben, als in den meisten Ländern (F: 35 Std. / D: 39 Std.) Das bedeutet z.B. dass meine französische Freundin mit einem 100% Job gleich viel Stunden arbeiten muss wie ich mit einem 80% Job. Und ja, wir verdienen oft gut genug, um uns dafür zu entscheiden, bewusst Teilzeit zu arbeiten. Aber in der Summe, arbeite ich je nach Land eben doch 100%.
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Wollen wir wirklich mehr Milei und Musk?
Der Neoliberalismus versucht ein Comeback.

Der Ökonom Simon Kuznets ist der Vater des Bruttoinlandprodukts. Von ihm stammt auch das Zitat: «Es gibt vier Arten von Ländern: entwickelte, unterentwickelte, Japan und Argentinien.» Japan und Argentinien sind tatsächlich abwechslungsweise makroökonomisch gesehen entweder Vor- oder Schreckbild.

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