Der Schritt der Schweizerischen Nationalbank (SNB) kommt zwar überraschend, doch sie hat gute Gründe, den Mindestkurs gegenüber dem Euro fallen zu lassen: Im Mittelpunkt steht dabei die Lage der europäischen Wirtschaft. Europa ist nach wie vor bei weitem unser wichtigster Handelspartner, und die Krise in Europa ist offenbar noch schlimmer, als bisher befürchtet.
Im Dezember ist Euroland in eine leichte Deflation gerutscht. Schuld daran war der rasante Zerfall des Erdölpreises. Das ist an sich eine gute Nachricht. Doch auch ohne billiges Öl sind die Preise in den letzten Monaten stetig gesunken und haben sich weit vom Zwei-Prozent-Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) entfernt.
Deflation ist für die Volkswirtschaft ein tödliches Gift. Deshalb muss und wird EZB-Präsident Mario Draghi handeln. Gegenüber der «Zeit» erklärte er heute in einem Interview unmissverständlich:
Eine «expansive Geldpolitik» bedeutet: Die EZB wird nun ebenfalls ein so genanntes Quantitative Easing (QE) durchführen. Will heissen: Sie muss Staatsanleihen im grossen Stil aufkaufen, um den Euro zu verbilligen. Draghi hat freie Bahn für ein QE, denn der Europäische Gerichtshof hat soeben in einer ersten Stellungnahme durchblicken lassen, dass er eine hängige Klage des deutschen Verfassungsgerichts abschlägig beantworten wird.
Die Schweizerische Nationalbank (SNB) geht – wie inzwischen fast alle Experten – davon aus, dass Draghi schon am kommenden Donnerstag ein QE im grossen Stil bekannt geben wird. Das bedeutet auch, dass sie annimmt, dass die europäische Wirtschaft sich in einem noch schlechteren Zustand befindet als bisher vermutet, denn nur mit einem deutlich billigeren Euro kann sie in Schwung gebracht werden.
Nicht nur in Griechenland ist die Lage katastrophal. In Spanien und in Italien ist die Arbeitslosigkeit dramatisch, bei den Jugendlichen liegt sie bei rund 50 Prozent. Politisch wird dies unhaltbar: In Griechenland zeichnet sich bei den Wahlen vom 25. Januar ein Sieg der Syriza-Partei ab. In Spanien ist die Podemos im Vormarsch, und in Italien droht nach dem Rücktritt des angesehenen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano ein politisches Chaos.
Bei der SNB ist man offensichtlich zur Einschätzung gelangt, dass sich mit einem bevorstehenden QE der EZB der Mindestkurs nicht mehr aufrechterhalten lässt. Der Druck wird zu gross. Ironischerweise hat die SNB nämlich mit dem Mindestkurs selbst ein umfangreiches QE durchgeführt, wenn auch unfreiwillig. Sie hat den Frankenkurs tief gehalten, indem sie im grossen Umfang Wertpapiere aus dem Euroraum aufgekauft hat.
Seit Ausbruch der Finanzkrise hat sich die SNB-Bilanz von rund 100 Milliarden auf 500 Milliarden Franken ausgeweitet. Allein im vergangenen Dezember soll die SNB ausländische Wertpapiere im Umfang von 30 Milliarden Franken aufgekauft haben. Hätte SNB-Präsident Thomas Jordan den Mindestkurs weiter verteidigen wollen, dann hätte er die Bilanz noch weiter verlängern müssen.
Dieses Risiko will Jordan offensichtlich nicht mehr weiter eingehen. Das ist einerseits verständlich, denn die potentiellen Verluste drohen bisher nicht vorstellbare Dimensionen anzunehmen. Allein der Kurssturz des Euro von heute dürfte den 30-Milliarden-Gewinn vom vergangenen Jahr aufgefressen haben. Die Option, den Mindestkurs aufzugeben, ist jedoch nicht minder gefährlich. Sofort nach Bekanntgabe der Massnahme stürzte der Euro gegenüber dem Franken ab.
Für die Schweizer Exportwirtschaft und den Tourismus bedeutet dies, dass sie gegenüber der ausländischen Konkurrenz über Nacht um 20 bis 30 Prozent teurer geworden sind. Einen solchen Preisschock kurzfristig aufzufangen, ist praktisch unmöglich. Mit dem Mindestkurs hat die SNB ihre Geldpolitik auf Gedeih und Verderben an die EZB gebunden. Jetzt hat sie wieder Spielraum, doch ob sie damit im damit entfachten Sturm der Märkte bestehen wird, ist ungewiss. Thomas Jordan ist um seinen Job nicht zu beneiden.
Es gibt wenige, grosse Exporteure (die heutigen Verlierer) und sehr viele kleine Importeure (die heutigen Gewinner). Zu diesen zählen alle Konsumenten und die KMU - deren Arbeitgeber - Die Bilanz könnte somit durchaus positiv ausfallen.