Die Manager der Post haben Grund zur Beunruhigung. Im vergangenen Jahr erhielten sie 240'000 Kundenreklamationen, elf Prozent mehr als im Vorjahr. Es ist die höchste Zahl, seit die Aufsichtsbehörde Postcom im Jahr 2012 ihre Arbeit aufgenommen hat. Die vom Bundesrat gewählte Kommission nennt in ihrem aktuellen Jahresbericht den häufigsten Grund für die Beschwerden: verloren gegangene Briefe.
Verantwortlich dafür ist gemäss der Bundesanwaltschaft unter anderem ein 56-jähriger Mitarbeiter des Briefzentrums Zürich Mülligen. Am kommenden Donnerstag steht er vor dem Bundesstrafgericht, weil er mindestens 4000 Briefe im Wert von 120'000 Franken gestohlen haben soll. Es ist ein Indizienprozess, weil das Sicherheitssystem der Post keine handfesten Beweise für den Diebstahl lieferte.
Die Überwachungskameras dokumentierten lediglich, wie der Mann entgegen den Regeln Briefbehälter zu seinem Arbeitsplatz trug, wenn er Frühdienst hatte. Die Bundesanwaltschaft vermutet, dass er das Bargeld später in seinen Kleidern und Schuhen nach Hause schmuggelte.
Der Fall flog auf, als jemand am Arbeitsplatz des Mannes einen Stapel Briefe fand, der dort nicht hingehörte. Es handelte sich um Geschäftsantwortsendungen mit dem Aufdruck «Reply Paid» und einer Adresse in Australien. Wer sich im Briefzentrum auskennt, weiss, was diese Briefe enthalten: kleine Summen Bargeld, mit denen Schweizer ihr Glück im australischen Montagslotto versuchen. Der Vorteil gegenüber dem Schweizer Lotto: Der Gewinn muss nicht versteuert werden. Dafür hat die Übermittlung ihre Tücken, da man Bargeld in Briefen verschickt.
Die am Arbeitsplatz beschlagnahmten Briefe enthielten 1700 Franken. Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass dies der durchschnittlichen Beute eines Tages entspricht und der Mann an allen Tagen zuschlug, an denen er Frühdienst hatte. Dann konnte er unbeobachtet ans Werk gehen. Die Schadenssumme von 120'000 Franken ermittelte die Bundesanwaltschaft mit einer Hochrechnung. Sie nimmt an, dass der Pöstler mit dem Geld seinen Lebensunterhalt bestritt. Darauf deuten die Bewegungen auf den mittlerweile gesperrten Konten des Mitarbeiters hin: In der Zeit der mutmasslichen Diebstähle hob er von seinem Lohnkonto kein Geld ab, sondern zahlte stattdessen 180'000 Franken ein.
Der Diebstahl fiel gemäss der Bundesanwaltschaft nicht auf, weil die rund 500 internationalen Geschäftsantwortsendungen, die täglich im Briefzentrum eintreffen, weder gezählt noch gebündelt noch gewogen werden. Auch die Absender merken nichts, da sie nur bei einem Lottogewinn eine Antwort aus Australien erhalten.
Der beschuldigte Mitarbeiter bestreitet die Tat. Seine Anwältin Caroline Ehlert kündigt an, dass er vor Gericht alles werde erklären können. Sie sagt: «Den einzigen Schaden, der entstanden ist, hat die Bundesanwaltschaft verursacht.» Diese habe durch die Beschlagnahmung der Briefe dafür gesorgt, dass diese nicht ausgeliefert werden konnten. Sechs Personen treten als Privatkläger auf. Sie verlangen vom entlassenen Mitarbeiter Schadenersatz und Genugtuung für die möglicherweise verpassten Lottogewinne.
Die Post will sich zum Fall nicht äussern. Sprecherin Nathalie Dérobert sagt: «Leider lässt es sich nicht vermeiden, dass es vereinzelt zu Unzulänglichkeiten kommen kann.» Die Post unternehme grosse Anstrengungen, um Diebstähle und Verluste zu meiden. So würden die Mitarbeiter regelmässig geschult und sensibilisiert. Mehr will sie dazu nicht sagen. Dafür gibt sie den Kunden einen Rat: «Die Post empfiehlt den Absendern, kein Bargeld zu schicken.»
Bei den aufgedeckten Diebstählen von Postmitarbeitern handelt es sich um wenige Fälle, aber grosse Schadenssummen. Im Dezember 2016 verurteilte das Bundesstrafgericht einen Chauffeur, der 1500 Pakete und Briefe im Wert von 70'000 Franken entwendete. Kurz zuvor stand ein Postbote vor Gericht, der Briefe mit Rubbellosen im Wert von 90'000 Franken mitgehen liess. Und bei der Hausdurchsuchung beim Leiter einer Postfiliale entdeckte die Polizei gestohlene Ware im Wert von 60'000 Franken. Alle drei Fälle ereigneten sich 2016 und trugen zur Beschwerdeflut in diesem Jahr bei. (aargauerzeitung.ch)
... ernsthaft?