Seit Monaten spielt sich in der Nähe des Zürcher Hauptbahnhofs ein Kampf um die Interpretation des Arbeitsrechts ab. Locus delicti ist ein unscheinbares Eck beim Sihlquai, wo 2019 die ortsansässige Migros-Genossenschaft eine neue Filiale eröffnete. Der Ort ist nicht ohne Bedeutung: Er ist der Grund, wieso es derzeit zum Seilziehen zwischen der Migros und der Gewerkschaft Unia kommt.
Auslöser ist nicht ein alltäglicher Streit wegen der Nachtruhe oder velowegversperrende Lieferwagen. Es geht um die symbolische Frage: Ist die Migros-Filiale ein Teil des Hauptbahnhofs, wo täglich hunderttausende Pendlerinnen und Pendler sich herumbewegen?
Oder handelt es sich um eine hundskommune Migros-Filiale in einem normalen Quartier, weil der Eingang zur Einkaufsfläche ganze zwanzig Meter vom Hauptbahnhofsperimeter entfernt ist?
Wenige Monate nach der Eröffnung erreichte die Gewerkschaft, dass ihre Ansicht obsiegt: Der Sonntag ist arbeitsrechtlich ein freier Tag und soll nur in äussersten Ausnahmen im Arbeitsplan von Verkäuferinnen und Verkäufern stehen. Die unmittelbare Nähe zu einem hochfrequentierten Ort wie dem Hauptbahnhof rechtfertigte die Aufweichung das Sonntagsarbeitsverbot nicht.
Die Migros-Genossenschaft gab klein bei und überlegte sich alternative Szenarien. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die Filiale lag zwar nicht unmittelbar auf dem Gelände des Hauptbahnhofs – Pendlerinnen und Pendler, die nach der Arbeit beim Sihlquai aufs Tram durften, konnten dort einkaufen zur Kasse gebeten werden. Die Migros wollte den lukrativen Standort nicht aufgeben und reagierte mit einem neuen Konzept: Neu soll niemand mehr dort arbeiten – ausser Self-Check-out-Kassen.
Wobei «niemand mehr» nicht ganz richtig war: Verkäuferinnen und Verkäufer gab es an der Zollstrasse zwar keine mehr, dafür aber ein Sicherheitspersonal, das am Sonntag auf Butterzöpfe, Früchte und kalten «Kaffee» aufpassen musste. Für die Unia war die neue Strategie nichts als «Schlaumeierei» – eine illegale noch dazu. So zumindest sah es das kantonale Verwaltungsgericht in Zürich, nachdem die Gewerkschaft Klage gegen das Betriebskonzept eingereicht hatte. Angeklagte war nota bene nicht die Migros-Genossenschaft, sondern das zuständige Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA), welches das Konzept zu Unrecht bewilligt hatte: Die Filiale kam völlig ohne «richtiges» Verkaufspersonal aus. Die Frischbackwaren mussten schliesslich am Sonntagmorgen von irgendjemanden vom Hauptbahnhof an die Zollstrasse gebracht werden.
Das Urteil von diesem Frühling erwuchs Anfang Juli 2022 in Rechtskraft und führte zur amtlichen Schliessung.
Diese Woche wurde nun die dritte Runde im Streit angekündigt: Die Migros will ihre einst «unbemannte» Filiale am Sonntag, 31. Juli, wieder eröffnen. Und zwar so, wie es von Anfang an geplant war: Mit Verkäuferinnen, Regalbefüllern und möglichst grosser Kundschaft, damit der lukrative Standort seinem Adjektiv gerecht wird.
Wieso die Migros das tut? Ganz einfach: Sie entschied selbstständig, dass die Filiale nun doch zum Hauptbahnhof gehört, weil es eine «neue Ausgangslage vor Ort» gebe. Werfen wir dazu einen Blick auf die Kataster-Karte:
Die Grenzen haben sich nicht gross verändert. Das Grundstück mit der Nummer IQ7074 beherbergt nach wie vor die Migros-Filiale und ist vom Hauptbahnhofsgelände getrennt. Was jedoch neu ist: dazwischen liegt keine Strasse mehr.
Vor wenigen Wochen «sanierte» die Stadt Zürich die Zollstrasse (im Grunde wurden grosse Flächen asphaltiert, obwohl die Stadt sich der kühlenden Wirkung von Bäumen bewusst ist), womit sie auch zwecks Quartierberuhigung von der Zollbrücke über dem Fluss abgeschnitten wurde. Zwischen Filiale und Hauptbahnhof steht nun ein grosser schwarzer Platz, eine Art «Fussgänger- und Velozone», womit das Areal – aus der Sicht der Migros-Genossenschaft – mit dem Hauptbahnhof verbunden wurde. Diese Interpretation impliziert für die Ladenbetreiberin, dass das Lagekriterium für einen «Betrieb für Reisende» erfüllt sei. Und somit am Sonntag öffnen dürfe.
Die Wieder- bzw. Neueröffnung – juristische Unterschiede seien dahingestellt – ist für kommenden Sonntag, 31. Juli, geplant.
Bei der Gewerkschaft kommt das unüberraschend nicht gut an. «Diese Filiale gehört immer noch nicht zum Bahnhofsperimeter. Ob da Autos fahren oder nicht, spielt dabei keine Rolle», sagte Sprecherin Nicole Niedermüller auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Die Unia will nun verhindern, dass der neue Plan der Migros aufgeht. Ihre erhoffte Waffe ist die sogenannte Feststellungsverfügung, die juristisch überspitzt ein «isch halt so»-Dokument darstellt: Die Gewerkschaft hat dieses vom zuständigen Amt für Wirtschaft und Arbeit verlangt, in dem bestätigt wird, dass die Migros-Filiale nicht zum Bahnhofsareal gehört.